Tanz unter Sternen
berührte, wür de der Schmerz ihn überwältigen. Er erinnerte sich an nächtelanges Weinen, daran, dass er vor Übelkeit nicht einmal einen Schluck Wasser hinuntergebracht hatte. Irgendwann waren seine Tränen aufgebraucht gewesen. Ärzte, die ihm helfen wollten, waren verzwei felt. Liebesweh – für diese Diagnose wussten sie kein Heilmittel.
Du bist jetzt stark, sagte er sich. Du bist Lyman Tundale, erfolgreicher Spion im Dienste Großbritanniens. Henry Holloway hätte das nicht geschafft. Bald war der Krieg da, dann konnte er Lucas beseitigen, und war Lucas fort, konnte er weinen, so viel er wollte, und dieser Sehnsucht nachgeben, wieder Henry Holloway zu sein, der Sanftmütige.
Er zog sich den Schuh aus. Unter der Innensohle befand sich ein Foto von Lucas, arg malträtiert, man sah den Bruder kaum, die filzigen Papierränder eroberten bereits die Augen und den Mund. »Lange nicht gesehen.« Auch wenn es nur noch der Rest eines Fotos war, Lyman sah die breiten Kieferknochen, die wuchtige Stirn, die Schneidezähne seines Bruders, er sah dessen selbstgebaute Peitsche, hörte ihn lachen.
»Es gibt Krieg«, flüsterte er, »hörst du? Dann sehen wir, wer der Schwächling ist.«
Er schnitt mit dem Daumennagel über das Foto.
»Wehe, wenn du ihr auch nur ein Haar gekrümmt hast. Ein Haar, Lucas!« Der Anflug von Schwäche verflog. Lyman schüttelte spöttisch den Kopf. Hirngespinste! Er fühlte Kraft in seine Glieder zurückkehren.
Im Traum hatte Nele sogar die Musik gehört, den Bolero von Moritz Moszkowski. Als sie sich am Ende des Stückes verbeugte, ging der Applaus wie ein Sommerregen auf sie nieder. Zuschauer erhoben sich. Bald stand der gesamte Saal, und die Leute klatschten ausdauernd, während sie sich wieder und wieder verneigte. Sie hatte es gespürt im Traum: Die Menschen waren berührt von ihrem Tanz, berührt und verzaubert.
Wogen schlugen gegen den Rumpf des Schiffs. Heute war das Meer aufgewühlt. Weiß schäumte es in den Wellentälern. Die Titanic schnitt unbeirrt ihren Weg durch das Wasser, aber an Deck war es ungemütlich. Ein nasser Wind fuhr Nele in die Haare. Nieseltropfen benetzten ihr Gesicht.
Ihr konnte nichts die Laune verderben. Seitdem sie vom Traum erwacht war, fühlte sie sich wie frisch verliebt. Dass niemand an Deck war, kam ihr gerade recht. Sie tanzte leichte Schritte durch den Nieselregen, lehnte sich gegen den Wind.
Bald war sie völlig durchnässt und fror. Besser, ich gehe wieder rein, dachte sie, sonst hole ich mir eine Erkältung, und dann gibt es Probleme mit der Einwanderungsbehörde. Sie hatte von den anderen Auswanderern gehört, dass die strengen Beamten nieman den einreisen ließen, der krank war. Sie setzten die Unglücklichen einfach ins nächste Schiff zurück nach Europa und scherten sich einen Dreck darum, ob sie für die Überfahrt nach Amerika ihren gesamten Besitz ausgegeben hatten.
Nele wandte sich um. Sie stutzte. Was machte der Junge hier draußen? Er kletterte an einer der Hebevorrichtungen hinauf und stieg ins Rettungsboot, das von den stählernen Armen herunterhing. War das nicht der Sohn des Pastors? Sie stieg die kleine Treppe hinauf, durchquerte das Gatter und ging zum Boot. Von unten konnte sie den Jungen nicht sehen, er musste auf dem weißen Segeltuch hocken, das über dem Rettungsboot aufgespannt war.
»Samuel?«, fragte sie.
Keine Antwort.
»Ich hab gesehen, dass du ins Boot geklettert bist. Was machst du da oben?«
Ein blonder Schopf zeigte sich über der Bordwand. »Wer sind Sie? Woher wissen Sie, wie ich heiße?«
»Ich bin Nele. Du solltest wieder reingehen, Samuel, es ist kalt und nass hier draußen, du wirst dir was wegholen.«
»Die Eltern haben mich raufgeschickt, ich soll an Deck spielen.«
»Das glaube ich nicht. Bei dem Wetter? Und allein an Deck! Du lügst mich an.«
»Ich lüge nicht.«
»Sie haben dich nach draußen geschickt?«
Der Junge rief: »Ich sag die Wahrheit!« Er wandte den Blick von ihr ab, schien nach Worten zu suchen. Schließlich murmelte er: »Sie wollen nicht, dass ich höre, wie sie sich streiten.«
»Haben sie das gesagt?«
»Nein, aber ich weiß es.«
Um die Ehe des Pastors stand es nicht zum Besten, das hatte sie längst bemerkt. Wie konnten die ihren Sohn so behandeln? »Komm runter«, sagte sie. »Wir gehen rein.«
Er runzelte die Stirn.
»Du hast schon blaue Lippen, Junge. Ich meine es ernst: Du sollst da runterklettern, und dann bringe ich dich rein. Ich lasse nicht zu, dass du dir den
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