Tanz unter Sternen
Eingang der ersten Klasse standen die Musiker. Sie trugen Schwimmwesten über ihren Anzügen und sahen sich gegenseitig an beim Spielen, mit wehmütigem Lächeln. Sie legten alles in diese Musik, das spürte man. Matheus passierte sie und stieg ins Schiff hinab.
»Wie kommt es, dass du das Lied kanntest?«, fragte er.
»Du vergisst, dass mein Vater religiös war. Er hat mich oft gezwungen, in die Kirche zu gehen.«
Auf der Treppe begegnete ihnen Benjamin Guggenheim. Er trug feinste Abendgarderobe, sein Haar war gekämmt, an den Fingern prunkten Ringe. Den Zylinder aus Seide hatte er fest in die Stirn gedrückt. Ihm folgte ein Diener mit einer säuberlich gefalteten Reisedecke unter dem Arm. Guggenheim sagte: »Gehen wir unter wie Gentlemen. Man muss Anstand wahren.«
Matheus stieg weiter hinab. »Vielleicht ein Tisch aus dem Salondeck.« Sie kämpften sich am Treppengeländer abwärts. Nie hatte er ein Geländer nötiger gehabt als jetzt. Oben und Unten gerieten durcheinander, die Welt war schief. Wände zogen ihn an, und die Treppe bockte.
Im Salondeck kam ihnen aus einer der Kabinen eine Frau entgegen, die Hände gefüllt mit runden Dosen. »Kirschzahnpaste«, sagte sie, »teure Kirschzahnpaste. Was die Leute liegen lassen, es ist ein Skandal!«
Hinter der Frau erscholl angstvolles Tschilpen. Er blickte in eine offen stehende Kabine. Auf dem Beistelltischchen unter dem Wandtelephon stand ein Käfig. Gelbe Kanarienvögel flatterten darin aufgeregt hin und her. Ein dicker Amerikaner redete ihnen zu. »Ich öffne euch ja die Käfigtür«, sagte er, »aber wohin wollt ihr fliegen, meine Süßen?«
Plötzlich geriet das Tischchen ins Rutschen, auch der Käfig schwankte, der dicke Mann hielt ihn fest. Matheus hastete zum Speisesaal. Als sie ihn betraten, fielen Teller und Tassen von den Tischen und zerbrachen. Ein Schrank kippte um, seine Türen zerknackten. Klirrend ergoss sich Porzellan aus seinem Inneren.
Matheus griff sich eine der Schranktüren, riss mit Gewalt ihre letzten Schrauben und Scharniere los und machte sofort kehrt. »Wir müssen raus hier«, keuchte er und stürzte wieder die Treppen hinauf.
Auf dem Weg nach oben hörten sie es überall poltern. Nele sagte: »Ich werde meine Mutter nie wiedersehen.«
»Doch, das wirst du«, widersprach er mit einer Heftigkeit, die ihn selbst überraschte.
Er stolperte hinaus auf das Deck. Dort bauten Seeleute an einem notdürftigen Boot, dessen Seitenwände aus Segeltuch erst aufgerichtet werden mussten. Es sah nicht besonders verlässlich aus. Aber es war ein Boot. »Schnell, Nele, rein dort«, sagte er.
Sie sah ihn an. »Und du?«
»Ich nehme die Schranktür.«
»Die trägt dich niemals.«
»Wenn du nicht einsteigst, sind für uns beide die nächste Station die kalten Wellen da unten.« Er schob sie in Richtung des Bootes.
Sie hielt dagegen. »Matheus, du hältst dich an Versprechen, oder?«
»Natürlich.«
»Versprich mir, nein schwöre, dass du dich rettest. Egal ob es einen Gott gibt oder nicht und ob du an die Ewigkeit glaubst. Du musst dich retten.«
Er sagte: »Ich werde alles tun, was ich kann. Ich verspreche es.« Er erhielt einen Stoß. Matheus sah sich um. Eine Menschenmenge schob ihn das schräg abfallende Deck hinab, sie drängte hin zum Boot.
Die Seeleute bildeten eine Menschenkette, sie verhakten die Arme. »Nur Frauen und Kinder!«, brüllten sie.
Nele zog seine Hand an ihre Wange. »Ich möchte dich wiedersehen.«
»Geh, rasch!«, befahl er. Das Boot füllte sich im Handumdrehen, immer wieder ließen die Seeleute Frauen durch ihre Kette. Es würde auch auf dieser Seite das letzte Boot sein, so viel war klar. Die Titanic sank immer schneller, selbst wenn es irgendwo weitere dieser Faltboote geben sollte, würde nicht genug Zeit bleiben, sie flottzumachen.
Hinter ihm, auf dem Promenadendeck, wich die Menge kreischend zurück. Eine Welle war über das Deck gespült. Die Menschen retteten sich zum Heck, das inzwischen weit in den Himmel hinaufragte, sie kletterten am Geländer und an den Wänden der Aufbauten entlang.
Endlich fasste sich Nele ein Herz. Sie warf Matheus einen letzten wehmütigen Blick zu und schloss sich dann den Frauen an, die auf die Seeleute zudrängten. Die Musiker hatten ihr Ragtimestück beendet und nahmen nun die Melodie auf, die er, Matheus, vorhin angestimmt hatte. Näher, mein Gott zu dir . Sie spielten es bedächtig wie auf einer Beerdigung. Was mochten sie denken? Dass es das letzte Musikstück war, das
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