Tanz unter Sternen
sie in ihrem Leben spielten?
Er sah Männer, die auf das Dach der Offiziersquartiere kletterten. Sie machten sich an Seilen zu schaffen, richteten Segeltuchwände auf. Offenbar gab es dort weitere von den Schiffsböden, die man mittels faltbarer Wände zu einem Rettungsboot aufbauen konnte. Es war zwar kein Kran da, der die Boote vom Dach hätte hieven können. Aber wie auch immer, es war eine Chance.
Während die Menge zum emporstehenden Heck eilte, um den Tod noch um einige Minuten hinauszuzögern, blieb Matheus nahe bei den Meereswogen. Er kletterte die kleine Leiter hinauf auf das Dach, während bereits Wasser um die Offiziersquartiere herumschwappte.
27
E in lang gezogener Schrei ließ Nele erschaudern. Ihm folgte ein fernes Aufklatschen. Jemand war ins Meer gesprungen. Auch auf der anderen Seite des Schiffs klatschten Leiber ins Wasser.
Die Kette von Seeleuten öffnete sich und ließ sie passieren. Nun stand sie weiter vorn in der Schlange von Frauen, die darauf warteten, ins Faltboot steigen zu dürfen. Einer nach der anderen halfen die Seeleute hinein.
Vor Nele standen Zwillingsschwestern an, dreizehn Jahre alt waren sie vielleicht, oder vierzehn. Die Mädchen hatten ihre kupferroten Haare zu Zöpfen geflochten, man sah, dass es in Eile geschehen war, die Zöpfe hingen schief, und einzelne Strähnen hatten sich daraus gelöst. Beide Mädchen trugen schwarze Wollmäntel.
Immer wieder drehten sie sich um und sahen besorgt zu einem Mann, der hinter den Seeleuten zurückgeblieben war. Der Mann rief ihnen Ermutigungen zu. »Geht weiter. Ich springe ins Meer, dort, wo sie euer Boot runterlassen. Wir sehen uns gleich wieder!«
Vor ihnen stieg eine alte Frau ins Boot, sie musste von zwei Seeleuten gestützt werden. Da gab der Offizier den Befehl: »Abfieren!«
Nele sagte: »Was soll das? Das Boot ist nicht voll.«
Der Offizier blieb hart. »Sehen Sie nach vorn zum Bug, wir haben keine Zeit mehr.«
»Warten Sie«, bat Nele, »nehmen Sie wenigstens die zwei Mädchen mit«, aber er hörte nicht darauf.
Der Bug tauchte tief ins Meer. Schwarze Wogen umspülten ihn. Während die Seeleute eilig das Boot zu Wasser ließen, griffen die Wellen nach dem Schiff, leckten über das Deck, saugten und schlürften. Sie begannen, es zu verschlingen.
Der Offizier sagte: »Wenn Sie fertig sind, ist jeder Mann für sich selbst verantwortlich. Sie haben gute Arbeit geleistet.«
Unter den zurückbleibenden Passagieren brach Panik aus. Hunderte Menschen schimpften, weinten. Einige Männer warfen Liegestühle ins Wasser und sprangen ihnen nach. Der Vater der Zwillinge bahnte sich mühsam einen Weg zu seinen Töchtern.
Sie warfen sich ihm an die Brust. »Was machen wir jetzt, Papa?«, wimmerten sie.
Nele sah nach oben. Auf dem Dach der Offiziersquartiere arbeitete Matheus mit anderen Männern daran, ein weiteres Faltboot seetüchtig zu machen. »Kommen Sie mit«, sagte sie, »dort gibt es noch ein Boot.«
Die Leiter hochzuklettern, erwies sich als schwierig – durch die Neigung des Schiffs stand sie nicht aufrecht, sondern schräg. Als Nele oben war, sah sie, dass es zwei Faltboote auf dem Dach gab. Ihre Seitenwände waren bereits aufgerichtet, die Laschungen zerschnitten. Männer hatten Ruder daruntergeschoben und versuchten, die Boote vom Dach zu rollen. Matheus zerrte an einem der Boote mit. »Kommt, helft mit schieben!«, rief sie nach unten. Aber die Mädchen schafften es nicht, die Leiter zu erklimmen, obwohl ihr Vater von unten nachhalf. »Meine Güte«, rief Nele, »in eurem Alter haben wir an der Turnstange auf dem Spielplatz Schweinebammel geübt, den ganzen Sommer lang, mit Überschlag – rückwärts und vorwärts!«
Es half nichts, die Mädchen blieben unten.
Sie gab auf, drehte sich um und packte mit an. »Wartet auf das Boot«, rief sie nach unten. Als Matheus sie erblickte und blass wurde, sagte sie: »Hab nicht mehr reingepasst ins Rettungsboot. Nimmst du mich hier mit?«
Das Faltboot ragte bald mit dem Bug über die Dachkante. Nach weiterem gemeinsamem Schieben schafften sie es, dass das Boot vornüberkippte und abwärtsrutschte. Es landete mit lautem Krachen auf dem wellenüberspülten Deck. »Schnell«, sagte einer der Männer, »machen wir es am Kran fest!«
Während sie alle vom Dach kletterten, hob sich das Heck der Titanic weiter an. Menschen verloren dort ihren Halt, sie schlitterten fast die gesamte Schiffslänge von zweihundertfünfzig Metern abwärts und schlugen unten im Wasser auf. Das
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