Tanz unter Sternen
O’Loughlin, der Arzt von der Krankenstation.
»Keine Angst mehr«, antwortete Matheus. Als hätte er mit der Schwimmweste auch die Furcht ausgezogen, schlug sein Herz bereits ruhiger. Gott ist an meiner Seite, dachte er, ob ich lebe oder sterbe.
»Sie beeindrucken mich.« O’Loughlin schürzte die Lippen.
Ein Uniformierter irrte orientierungslos über das Deck. »Sie sollen die Klappe halten. Die Klappe halten!« Er lachte laut und schrill.
Aus dem Lachen sprach eine Verzweiflung, die Matheus erschreckte. Er stellte sich dem Uniformierten in den Weg. »Wovon sprechen Sie?«, fragte er und legte ihm die Hand auf den Arm.
»Die Californian hat uns vor Eisbergen gewarnt. Ich hab ihnen geantwortet, sie sollen die Klappe halten. Verstehen Sie das? Ich hab gesagt, sie sollen die Klappe halten!«
»Sind Sie Funker?«
»Ja. Ich hab nicht zugehört. Gott wird mir niemals vergeben.«
»Kommen Sie, wir suchen uns einen ruhigen Ort und beten«, sagte Matheus.
Der Funker schüttelte den Kopf. »Gott hasst mich! Ich bin schuld an allem.«
Matheus sah ihm fest in die von roten Äderchen durchzogenen Augen. »Mein Name ist Matheus Singvogel, ich bin Pastor. Glauben Sie mir, Gott hört Ihnen zu.«
»Beten Sie für mich«, sagte der Mann leise.
Matheus führte ihn in einen Winkel des Schiffsaufbaus. »Wie heißen Sie?«
»Jack Phillips, Sir.«
Er faltete seine Hände um die des Funkers, schloss die Augen und sagte: »Allmächtiger, du liebst jeden Menschen. Mister Phillips kann es nicht mehr spüren. Er hat Schuld auf sich geladen und fürchtet deinen Zorn. Bitte, vergib ihm und lass ihn wissen, dass du ihn annimmst. Er ist dein Kind, steh ihm bei, gib ihm Zuversicht.«
Matheus wartete einen Augenblick, dann öffnete er die Augen.
Der Funker blinzelte. Er nickte gerührt. »Danke. Vielen Dank, dass Sie das für mich getan haben.«
Hinter dem Funker sammelten sich Dutzende Gesichter. »Können Sie auch mit mir beten?«, fragte ein Mann.
»Und mit mir«, sagte ein anderer, »ich bitte höflich darum. Wer weiß, wie lange wir noch leben.«
Sein Gewicht drückte Matheus gegen die Wand. Hatten sie bereits eine solche Schräglage? Er umfasste die Ecke des Dachaufbaus über dem Aufgang der ersten Klasse und sah in Richtung Bug. Irgendwo dort vorn spielte die Band fröhliche Tanzmusik. Die Musiker spielten gegen die Angst an.
Er rief die Männer einzeln zu sich und betete mit ihnen. Die Maschinen liefen, alle Lichter leuchteten. Währenddessen versank das Schiff, Meter für Meter, behäbig und unerbittlich. Von der Menschentraube, die sich bei ihm versammelt hatte, hielten sich inzwischen viele an der Reling fest, um nicht abzurutschen. Einige Frauen umklammerten sich schluchzend. Ein Steward rauchte die letzte Zigarette. Die Luft war eisig. Die Menschen warteten auf den Tod.
Gott, dachte er, du liebst sie alle, die Männer, die Frauen, die hier stehen. Ist es nicht auch für dich eine Qual, deine Geschöpfe in solcher Verzweiflung zu sehen? Warum greifst du nicht ein?
Sie sahen ihn, Matheus, erwartungsvoll an. Wie sollte er ihnen helfen, ausgerechnet er! Seit Jahren hatte er Albträume vom Ertrinken. Er stimmte auf Deutsch ein Lied an: Näher mein Gott zu dir, näher zu dir! Drückt mich auch Kummer hier, drohet man mir, soll doch trotz Kreuz und Pein, dies meine Losung sein: Näher mein Gott zu dir, näher zu dir!
Einige von den Wartenden sangen mit, jeder in seiner Sprache. Matheus schloss die Augen und sang aus vollem Herzen:
Bricht mir, wie Jakob dort,
Nacht auch herein,
Find ich zum Ruheort
Nur einen Stein,
Ist selbst im Traume hier
Mein Sehnen für und für:
Näher mein Gott zu dir,
Näher zu dir!
Eine Frau sang auf Deutsch mit, sie hatte eine volltönende junge Stimme. Er öffnete die Augen und suchte sie in der Menge. Er schrak zusammen. »Nele?«
»Wir werden sterben, oder?«, fragte sie.
»Warum bist du nicht in einem der Rettungsboote?«
»Da war einer in seiner Kabine eingesperrt. Wir haben erst den Steward gesucht, um einen Schlüssel zu bekommen, und als wir ihn nicht finden konnten, haben wir die Tür eingeschlagen. Gebracht hat es nichts. Der Mann hat’s auf kein Boot mehr geschafft und ich auch nicht.«
Matheus fasste sie an der Hand und zog sie mit sich. Im Treppenaufgang der zweiten Klasse ballten sich die Menschen, hier gab es kein Durchkommen. Er zog Nele weiter zur ersten Klasse, er sagte: »Wir müssen etwas Hölzernes finden, an dem du dich im Wasser festklammern kannst.«
Im
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