Tapas zum Abendbrot
die Adrian völlig selbstverständlich findet. Isabel aber ist immer von Menschen umgeben gewesen, die ihr helfen konnten: Freunde, Bekannte, Familie. Sie ist noch nie in einem Land gewesen, in dem nicht Spanisch gesprochen wird. In ihrem Kulturkreis geht kaum einer allein auf Reisen, man schlägt sich nicht alleine durch; Gemeinschaft ist dort das allergröÃte Gut. Warum soll man überhaupt allein sein wollen? Dass Adrian sie an die Hand nimmt, das wünscht sie sich nicht nur, das findet sie selbstverständlich.
Doch was ist schon selbstverständlich?
Internationale Paare merken oft erst an Kleinigkeiten, dass sie dieses Wort getrost aus ihrem Wortschatz streichen können. Wie man Dinge angeht, was wichtig erscheint, wie man Probleme löst â all das zeigt sich erst nach und nach in einer Beziehung. Dabei gehen die Unterschiede manchmal schon beim Kennenlernen los. Das belegt sehr beispielhaft eine Studie aus den 40er- und 50er-Jahren des letzten Jahrhunderts. Damals, gegen Ende des Zweiten Weltkrieges und in den ersten Nachkriegsjahren, hielten sich viele amerikanische Soldaten zeitweise in GroÃbritannien auf. So nah sich die zwei Länder auch stehen mochten, und obwohl sie die gleiche Sprache teilten â die einzelnen Schritte, die in einer amourösen Verbindung als normal galten, unterschieden sich grundlegend. Etwa 30 Verhaltensstufen identifizierten die Forscher sowohl aufseiten der amerikanischen G.I.s als auch auf der der britischen Frauen: das Kennenlernen etwa, der erste Kuss und schlieÃlich der erste Sex. Doch während die Amerikaner das Küssen relativ früh in der Abfolge der Ereignisse für normal hielten, kam es für die Engländerinnen erst sehr spät infrage, etwa auf Stufe 25. Raubte ein amerikanischer Soldat also seiner Umworbenen schon nach einem der ersten Treffen einen Kuss, so musste diese ihn für schamlos halten â und gleichzeitig überlegen, ob sie wirklich schon bereit war, eine sexuelle Beziehung einzugehen. Denn das war ja in ihrer Logik einer der nächsten Schritte. Fiel diese Entscheidung positiv aus und machte sie dies dem Soldaten gegenüber deutlich, so hielt der wiederum die Engländerin für schamlos und leicht zu haben. SchlieÃlich hatte er nur einen unschuldigen Kuss im Sinn gehabt! So wertet jeder nach seinem MaÃstab. Natürlich haben sich die Zeiten geändert, und natürlich werden die Wertungen mittlerweile anders ausfallen als in Nachkriegszeiten. Aber noch heute ist so mancher Nordeuropäer verwirrt, wenn ein Vertreter der südlichen Breitengrade allzu schnell beginnt, SüÃholz zu raspeln â und sich später nicht so verbindlich verhält, wie man es im Norden nach solchen Worten wohl täte. Damals wie heute sieht ein jeder die Welt durch seine ganz persönliche kulturelle Brille.
Kaum einer ist sich anfangs der Erklärungsnotwendigkeit von Details bewusst, eben weil sie selbstverständlich erscheinen. Natürlich weicht man der Familie nicht von der Seite, wenn sie zu Besuch kommt! Auf gar keinen Fall spricht man einen Freund direkt und schonungslos auf ein Problem an! Selbstverständlich schickt man Geld in die Heimat, wenn es dort gebraucht wird! All das scheint dem einen so klar und deutlich, dass der Unterschied zum anderen erst bewusst wird, wenn der mit Unverständnis reagiert: Kannst du den Besuchern nicht auch mal einen Stadtplan in die Hand drücken und sie allein losschicken? Kannst du dem Freund nicht einfach klipp und klar sagen, was das Problem ist? Ist das viele Geld nicht ein wenig übertrieben? Meist gibt es wegen solcher Themen zuerst einmal Streit. Erst nach und nach wird klar: Die eigene Kultur muss dem anderen erklärt werden wie ein unbekanntes StraÃenbahnsystem.
Deshalb haben internationale Paare anderen aber auch etwas voraus: Sie wissen nämlich nach den ersten Stolpersteinen, dass der Partner nicht etwa doof oder merkwürdig ist. Und sie fragen auch seltener, warum zum Teufel er dieses oder jenes einfach nicht verstehen kann. Denn sie wissen: Für ihn ist das eigene Verhalten genauso doof oder merkwürdig.
We are family
Warum wir so sind, wie wir sind, hat viel damit zu tun, in welcher Umgebung wir aufgewachsen sind. Deutschland etwa bezeichnet man als sogenannte »Individualgesellschaft«. Für jemanden wie Adrian zählen deshalb Werte wie Selbstständigkeit, Rationalität, Eigenverantwortung,
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