Taquanta: Zwischen Traum und Wirklichkeit (German Edition)
stünde. Wie viele Leute gefallen waren, und vielleicht würde er sogar einige Namen nennen.
Ich kaute auf meinen Fingernägeln, eine Angewohnheit, die ich seit vier Jahren immer wieder aktivierte, wenn ich nervös war. Das Gespräch fiel spärlich aus, sogar Davinia war aussergewöhnlich still. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach, und ausnahmsweise waren meine nicht bei Giardio, sondern bei meinem Vater. Ich versuchte mir vorzustellen, was er wohl gerade tat, doch es misslang mir. Egal, wie schrecklich die Situation war, ich fühlte mich hier wohler als in den letzten vier Jahren bei mir zu Hause. Dort hatte mich täglich Einsamkeit empfangen, wenn ich nach Hause kam. Egal, wie viele Freunde ich auch hatte, die Abwesenheit meiner Mutter war überall spürbar. Doch hier kannte mich niemand. Ich konnte sein, wer ich wollte. Ich war nicht das Mädchen, dessen Mutter bei einem Autounfall starb, als sie zwölf war. Autounfall. Das war die Erklärung für ihren Tod; niemand wusste, was wirklich geschehen war. Nicht einmal meinen besten Freunden hatte ich es erzählt. Auch hier kannte niemand die Wahrheit, aber es kannte auch niemand die Lüge.
Als es an der Tür klopfte, zuckte ich zusammen. Für einen Moment sahen wir uns schweigend an.
»Herein«, sagte Agnesia schliesslich.
Ein Bote trat ein. Man konnte förmlich spüren, wie alle die Luft anhielten. Seltsamerweise fühlte es sich angenehm an, nicht zu atmen. Der Bote sah uns an, und eine Weile lang wagte niemand ein Wort. Ich atmete immer noch nicht. Scheinbar brauchten meine Lungen keine Luft mehr.
Der Bote räusperte sich: »Der Kampf ist noch nicht vorüber. Die Vampire haben sich zurückgezogen, um ihre …Neuankömmlinge zu versorgen.«
Schweigen.
»Wie viele?«, flüsterte Isabelle.
»Wie wir festgestellt haben, sind es drei.«
»Drei was?«, wollte ich wissen.
»Drei, die gebissen wurden und nun ebenfalls zu den Vampiren gehören.«
»Nun, noch nicht ganz, aber sie verwandeln sich langsam. Das dauert einige Tage. Die Vampire haben auch Menschen mitgenommen, um sie zu füttern, wenn sie keine menschliche Nahrung mehr zu sich nehmen.«
Schweigen.
»Hinter den Mond Gebrachte?«
»Die Zahl ist unklar, aber …«,der Bote stockte, »ähm … die Namen an und für sich auch, aber …« Er sah uns alle an.
»Es gibt keinen einfachen Weg, das zu sagen.«
O nein. Bitte nicht. Ich schloss die Augen. Mein Herz verkrampfte sich. Es wollte – konnte – nicht hören. Eine einzelne Träne rann mir die Wange hinab. Ich biss mir tapfer auf die Lippe und sah den Boten an. Er begegnete meinem Blick für einen kurzen Augenblick und nickte unmerklich.
»Sir Giardio ist von uns gegangen; er gehört nun zu den Totseelern.«
Ichhörte, wieAgnesiasAtemstockte, Daviniaschluchzte und Isabelle einen kleinen Schrei ausstiess.
»Nein«, hauchte Isabelle. Ich konnte mich nicht rühren. Ein Totseeler. Einer, der seine Seele verloren hatte, weil jemand anderer zum Vampir wurde. Weil
ich
zum Vampir wurde. Woher ich das wusste, war mir nicht klar, aber ich spürte, dass es stimmte. Er war wegen mir zu dem geworden, was er nun war. Und auch jemand anderer. Es brauchte zwei Seelen, und ich hatte seine. Instinktiv flog meine Hand an mein Herz. Ich konnte fühlen, wie es sichzusammenzog und ausdehnte, um das Gift in meine Arterien zu pumpen. Ich schaute auf. Der Bote hatte sich aus dem Staub gemacht. Isabelle hielt Davinia im Arm und beide schluchzten. Agnesia sass steif da, und Tränen flossen über ihr Gesicht. Sie begegnete meinem Blick, und ich las darin, dass sie wusste, was mit mir geschehen war. Sie wusste genauso gut wie ich, weshalb Giardio ein Totseeler geworden war. In ihrem Blick lag keine Anschuldigung, nur Trauer und Wissen. Beschämt senkte ich den Kopf und stand auf.
»Gute Nacht«, stiess ich mit erstickter Stimme hervor.
Mein Abgang wurde weder von Isabelle noch von Giardios Schwester gewürdigt. Nur seine Mutter sah mir mit klarem Blick nach.
»Vergib mir«, formte ich mit den Lippen. Sie sah mich forschend an. Ich wusste nicht, nach was sie suchte, aber nach einem Moment, der mir wie eine Ewigkeit vorkam, nickte sie. Was auch immer sie gesucht hatte, sie hatte es gefunden.
Ohne mich noch einmal umzudrehen, ging ich leise hinaus und rannte die Flure hinunter in mein Zimmer. Ich warf mich auf mein Bett und wartete auf die Tränen. Sie kamen und brachten Schuldgefühle und Erinnerungen an unsere gemeinsame Zeit. Nicht lange genug, und doch so vollkommen.
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