Tarean 02 - Erbe der Kristalldrachen
Im Spätherbst hatten die Bauern die Felder rund um Ortensruh abgeerntet und ein rauschendes Erntedankfest gefeiert. Um die Wintersonnenwende hatte man auf Burg Dornhall drei Tage lang die Dreigötterehren begangen. Und mit dem anbrechenden Frühling sah man nun die Schäfer mit ihren Herden in die Berge hinaufsteigen, um die hoch gelegenen Weidegründe aufzusuchen, auf denen sie den Sommer verbringen würden, während gleichzeitig die Saat für den nächsten Herbst ausgebracht wurde.
Auril lebte seit beinahe sechs Monden hier – und mit jedem Tag, der verstrich und den sie gezwungen war, untätig durch die weitläufigen Korridore von Cayvallon zu streifen oder mit ereignislosen Patrouillengängen durch das Almental zu verbringen, hasste sie ihr Exil, in das sie nur auf Druck ihres Vaters eingewilligt hatte, mehr.
Die Miene der Albin verfinsterte sich. Sie erinnerte sich noch lebhaft an das Gespräch, das Sinjhen zwei Nächte nach der Schlacht um At Arthanoc mit ihr geführt hatte. Er war zu ihr gekommen und hatte seiner Sorge Ausdruck verliehen, dass ihre Liebe zu Tarean – oder vielmehr Tareans Liebe zu ihr – den Jungen von dem Pfad abbringen würde, den das Schicksal für ihn, zumindest in den Augen Jeorhels und Sinjhens, bereithalten mochte. Dieser Junge ist mehr als nur ein Knabe vom Lande, dem es zufällig gelungen ist, einen Dämon und einen Hexenmeister zu vernichten, hatte ihr Vater mit beschwörender Geste gesagt. Ich glaube, dass er noch ganz andere Taten vollbringen wird. Und nicht nur ich denke so. Auch der Hochkönig spürt es. Deshalb ist es wichtig, dass sein Geist offen bleibt für die Herausforderungen, die vor ihm liegen. Ein friedvolles Leben – Heim und Herd – mit dir an seiner Seite ist ihm noch nicht beschieden.
Sie hatten heftig miteinander gestritten – wobei Aurils Widerstand nicht einmal so sehr aus dem Wunsch erwachsen war, sich eine gemeinsame Zukunft mit dem Menschenjungen zu erkämpfen. Sie hegte Gefühle für Tarean, das hatte sie sich und auch ihm spätestens am Morgen nach der Schlacht in den Ruinen von Calvas’ zerstörtem Thronsaal eingestanden. Doch wohin sie diese Gefühle führen würden, vermochte sie nach so kurzer Zeit einfach noch nicht zu sagen – zu Heim und Herd jedenfalls nicht! Nein, der Zorn der Albin hatte vielmehr dem Umstand gegolten, dass sich ihr Vater offenbar erneut als Sprachrohr höherer Mächte sah – und als solches das Recht beanspruchte, über Tareans und ihr Leben zu verfügen. Schon seinerzeit, als er gemeinsam mit dem Hochkönig auf Cayvallon den Aufstand der unterdrückten Völker gegen Calvas geplant hatte, war ihr die Selbstverständlichkeit, mit der die Herren auf ihren hohen Thronen über Leben und Tod von Tausenden entschieden, unerträglich gewesen.
Damals war Auril einfach weggelaufen. Und auch in dieser Nacht hätte sie weglaufen können, wäre da nicht das schwer einzugestehende, aber nichtsdestoweniger unleugbare Wissen gewesen, dass Sinjhens Vision vom Kampf gegen Calvas letztlich doch zur Freiheit geführt hatte. Was, wenn er auch mit diesen Worten recht hat? , hatte eine innere Stimme das Flämmchen nagender Ungewissheit in ihr genährt. Wie schwer wog schon ihr eigenes, trotzig erkämpftes Glück gegenüber dem Schicksal einer Welt?
Zuletzt hatte ihr Vater ihr eine Trennung auf Zeit abgerungen. Auril hatte sich bereit erklärt, ihn mit Bromm zurück nach Albernia zu begleiten und diesem ominösen Schicksal einen Winter lang Zeit zu gewähren, um den Jungen für sich zu beanspruchen. Und so saß sie hier nun seit Wochen und Wochen fest, wartete – und nichts war geschehen. Nur ihre Unruhe war gewachsen, und die Sehnsucht, ihre Gefährten wiederzusehen.
Gedankenverloren strich sie über das Heilamulett Kilrien, das ihr Tarean seinerzeit in Thal geschenkt hatte, als sie nach einem Wolflingangriff an der Schwelle des Todes gestanden hatte. Nur einmal hatte sie es danach abgelegt – um Bromms furchtbare Verletzungen zu heilen, die er im Kampf während der Schlacht um At Arthanoc gegen den Grimmwolf davongetragen hatte. Hier im Exil war es die einzige greifbare Erinnerung, die sie an Tarean und die anderen besaß – die Taijirinmesser, die ihr Iegi vor dem Ritt der Greifenreiter vermacht hatte, zählten nicht, denn es waren einfache Werkzeuge, die sie im Übrigen längst durch Waffen albischer Machart ausgetauscht hatte.
Was, wenn Sinjhen falschlag? Wenn er die ganze Zeit falschgelegen hatte? Tarean hatte den Hexer und den
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