Tarean 02 - Erbe der Kristalldrachen
Moosbeere am Himmel über Undur dahin, und obwohl bis zum späten Nachmittag die Sonne schien, war der Junge dankbar für seine warme Reisekleidung, denn ein kalter Wind wehte von Firnland her durch das Tiefland zwischen den beiden Gebirgen gen Süden.
Am frühen Abend zogen in ihrem Rücken dichte Wolken auf, und Tarean, der nicht darauf erpicht war, durch strömenden Regen zu reiten, ließ Ro’ik tiefer sinken, um sich einen geschützten Rastplatz für die Nacht zu suchen. Er hatte kaum zwei mächtige Gesteinsplatten erspäht, die aneinandergelehnt einen Unterschlupf vor Wind und Wetter zu bieten schienen, als der mittlerweile graue Himmel über ihnen bereits seine Schleusen öffnete. Rasch flüchteten sie sich ins Trockene.
Die zweite Nacht unter freiem Himmel drohte zunächst noch unbequemer zu werden als die erste, denn der Boden unter ihren Füßen war blanker Fels, und sie hatten nicht einmal Holz, um sich ein wärmendes Feuer anzuzünden. In seiner Not schmiegte sich Tarean vertrauensvoll an Ro’iks warmen Pferdeleib, und auch wenn der Greif nach feuchtem Gefieder roch, war der Junge ihm dankbar, als jener einen seiner Flügel schützend wie eine Zeltplane über ihm ausbreitete, um ihn vor dem eisigen Atem Firnlands zu bewahren. Schließlich huschte auch noch Moosbeere herbei, deren nächtlicher Unternehmungslust der unablässige Regen nasskalte Schranken gesetzt hatte. Und als sie mit leisem Summen ihren kleinen, warmen Körper an seine Brust kuschelte, ließ Tarean dies gerne geschehen. Dass die unmittelbare Nähe des Irrlichts seine Gedanken nicht unweigerlich in Richtung des Gesprächs der letzten Nacht führte, war ein ziemlich deutliches Zeichen seiner Erschöpfung nach dem langen Reisetag. Er fühlte sich so warm und geborgen, wie man sich an einem Ort wie Undur fühlen konnte. Und mit diesem Wissen sank er in einen traumlosen Schlaf.
At Arthanoc war für die Ewigkeit erbaut worden.
Vor tausend Jahren hatten die Vorfahren der Menschen, die heute Breganorien, Thal, Astria und Undur bewohnten, die Festung als stummen Wächter gegen Bedrohungen aus dem Norden und dem Osten errichtet. Das Agialonische Reich, unter dessen Banner das Kernland von Endar damals vereint gewesen war, hatte nie dagewesene Anstrengungen unternommen, um am äußersten Rand seines Hoheitsgebiets eine riesenhafte Trutzburg entstehen zu lassen, die, einen steilen, unüberwindbaren Gebirgszug im Rücken, über eine felsige Hochebene hinweg weithin nach Osten und Westen zu blicken vermochte. Mauern aus mächtigen schwarzen Steinquadern, die an ihrem Fundament mehrere Manneslängen maßen, waren in einem dreifachen Verteidigungsring um das Innerste der Burg gelegt worden. Dicke Rundtürme mit zahllosen schmalen Schießscharten und gewaltige, durch schwere Fallgatter und Torhäuser geschützte Eisentore, die den einzigen Zugang in das Bollwerk darstellten, hatten den Eindruck der Wehrhaftigkeit noch verstärkt. Hohe Steinhäuser zwischen den Mauern hatten Platz für eine mehrere Tausend Kopf starke Garnison geboten. Und im Zentrum von At Arthanoc hatte sich der imposante Bergfried, ein finsterer Turm von enormen Ausmaßen, erhoben, der alleine schon ausgereicht hätte, um den Mut ebenso leichtfertiger wie tollkühner Angreifer ins Wanken zu bringen.
Jahrhundertelang hatte At Arthanoc als Wachfeste des Agialonischen Reiches gedient. Nach dessen Fall war sie von wechselnden Herrschern beansprucht worden. Und schließlich hatten erst Calvas und später seine Wolflinge dort Einzug gehalten. Doch obwohl diese letzten Jahre nicht unbedingt zum Ruhm von At Arthanoc beigetragen hatten, war die Festung ein Monument gewesen, das fallen zu sehen einem Normalsterblichen nicht hätte vergönnt sein dürfen.
Tarean erinnerte sich an diese Worte Hochkönig Jeorhels, als sei es gestern gewesen, dass sie gemeinsam auf einer Hügelkette im Süden der Ehrfurcht erweckenden Burg gestanden hatten. Viertausend Männer und Frauen – Menschen, Alben und Taijirin – hatten voller Erwartung auf die einstige Heimstatt von Calvas, dem Tyrannen, geblickt, deren Dasein an diesem Tag ein Ende finden würde. Über ihnen hatte sich ein eisblauer, wolkenloser Himmel gespannt, und ein kalter Wind hatte von Norden her über die Grauen Berge geweht. Wimpel hatten mit aufgeregtem Knattern geflattert und Mäntel sich träge im kühlen Gruß aus Firnland gebläht. Ansonsten war kein Laut zu hören gewesen. Es hatte Totenstille geherrscht.
Und dann war der erste Stein
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