Tarean 02 - Erbe der Kristalldrachen
Schultern. »Ich kann es nicht erklären, weil ich mich wirklich kaum noch entsinne. Ich nehme an, das ist die Schuld dieser Kesrondaia.«
»Aber hätte es sein können, dass du dich verwandelt hast?«, hakte Tarean nach. Er wusste selbst nicht, warum ihm diese Frage so wichtig erschien. Doch, tief in seinem Inneren wusste er es – und dieser Teil von ihm wünschte sich mindestens genauso, dass Moosbeeres Antwort »Nein« lauten möge, wie er sich zugleich ein »Ja« ersehnte.
Aber das Irrlicht sagte gar nichts. Stattdessen wandte Moosbeere sich ab, legte schweigend ein paar Schritt Distanz zwischen sie und verschwand für einen Moment in einer Kugel aus goldenem Licht. Und dann stellte sie eine Frage, die er aus ihrem Mund niemals erwartet hätte: »Liebst du mich, Tarean?«
Dreigötter. Alles, nur nicht das, fuhr es ihm durch den Kopf. Vielleicht etwas zu schnell erwiderte er: »Ja, natürlich. Niemand ist so eine treue Gefährtin wie du.« Die Antwort klang so glatt wie falsch, und er wusste es, kaum dass er die Worte ausgesprochen hatte.
Moosbeere huschte auf ihn zu und wurde wieder sichtbar. »So eine Liebe meine ich nicht«, versetzte sie in tadelndem Tonfall, nur um gleich darauf eine anmutige Pirouette zu vollführen und mit schmachtendem Blick zu flöten: »Ich meine Herzklopfen, ein Gefühl, als schwebe man, Fruchtfliegen im Bauch …«
Der Junge spürte, wie ihm eine vielsagende Wärme ins Gesicht stieg, und er war dankbar für die Dunkelheit, die ihn umgab. »Es heißt Schmetterlinge im Bauch«, murmelte er verlegen.
Das Irrlicht hielt inne. »Es heißt Fruchtfliegen! Schmetterlinge … was für ein Unsinn.« Sie deutete an sich hinab. »Sehe ich so aus, als würden Schmetterlinge in meinen Bauch passen? Außerdem«, Moosbeere glitt ganz nah an ihn heran und tippte Tarean mit dem Zeigefinger vorwurfsvoll auf die Nasenspitze, »bist du jetzt derjenige, der einer Frage ausweicht.«
Tarean schluckte und nickte langsam. »Ich weiß.« Auril, warum musstest du nur nach Cayvallon gehen?
»Und wie lautet deine Antwort?«
Der Junge schloss die Augen. In seinem Geist huschten die Wochen und Monde, die seit seiner Abreise aus dem Almental vergangen waren, vorüber, und zum ersten Mal wünschte er sich, er hätte dieser kleinen Welt der hochnäsigen Zofen und einfältigen Mägde nie den Rücken gekehrt. » Das weiß ich nicht«, gestand er.
Er spürte, wie ihn winzige Lippen mit ungewohnter Zärtlichkeit auf die Stirn küssten. »Bis du dir darüber klar geworden bist, wirst du damit leben müssen, dass es Geheimnisse gibt, die ich nicht mit dir teilen kann«, flüsterte Moosbeere.
Dann huschte sie davon und ließ Tarean mit seinen Gedanken allein. Es dauerte noch lange, bis er endlich eingeschlafen war.
Und noch jemand fand in dieser Nacht keinen Schlaf. Weit im Westen, jenseits von Astria, Thal und Breganorien, stand Auril auf den Zinnen der weißen Burg Cayvallon und blickte in die Nacht hinaus. Zu ihren Füßen erstreckte sich das Almental, eine friedliche, kleine, von den Bergen des Helvenkamms im Süden und des Antallarzugs im Norden beschirmte Welt, die niemals den eisigen Würgegriff der Schreckensherrschaft des Hexenmeisters kennengelernt hatte.
Natürlich hatte es gelegentlich Überfälle der Wolflinge gegeben. Und das Dorf Ortensruh, dessen Lichter Auril die Talsohle hinab erkennen konnte, dort wo sich der Fluss Eilwasser und die aus den Kernlanden kommende Handelsstraße kreuzten, war mehr als einmal von Calvas’ Schergen in Brand gesteckt worden. Doch wann immer der Hexer in seiner grenzenlosen Gier seine kalten Finger auch nach diesem Gebiet, einem der letzten Refugien der westlichen Reiche Endars, ausgestreckt hatte, waren sie ihm von den blitzenden Schwertern der Alben, die diese Berge unter dem Befehl des Hochkönigs Jeorhel unermüdlich verteidigt hatten, blutig geschlagen worden.
Dann jedoch war Tarean gekommen, der arglose Junge aus der kleinen Menschenburg Dornhall, die auf der anderen Talseite oberhalb von Ortensruh am sanft ansteigenden Berghang lag, und seine irrwitzige Queste, den Hexer herauszufordern und für die Schmach, die dieser seinem Vater angetan hatte, zur Rechenschaft zu ziehen, hatte alles verändert. Sie hatte Calvas vernichtet. Sie hatte die Kernlande vom Joch der Besatzung durch die Grawls befreit. Nach all den Jahren war endlich Frieden in den westlichen Reichen eingekehrt.
Und das Almental war noch mehr als früher in stiller Selbstgenügsamkeit versunken.
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