Tarean 02 - Erbe der Kristalldrachen
Wort der Macht, das seit sechs Monden nicht mehr seine Lippen verlassen hatte: »Esdurial!«
Es war, als springe ein winziger Funken vom verzierten Griff hinauf zur blanken Klinge und entzünde sie. Dann leckten kalte, weiße Flammen das silberne Metall empor. Die eingelassenen Kristallrunen glitzerten machterfüllt, und schließlich erwachte das ganze Schwert fauchend zum Leben. Sein grelles Strahlen flutete den dunklen Raum und wurde hundertfach von den fantastischen Kristallformationen gebrochen und zurückgeworfen, bis der ganze Felsendom vom Licht Esdurials erfüllt war.
»JETZT«, dröhnte Kesrondaia mit unerwarteter Stärke. Mit einem Grollen spannte die Kristalldrachin die gewaltigen Muskeln an und zwang ihren an den Felsboden gefesselten Leib mit den Vorderbeinen in die Höhe. Tarean vernahm das protestierende Knacken der schweren Kettenglieder und das grausige Knirschen, als sich die machterfüllten schwarzen Fesseln in die Schuppen im Nacken und an den Flanken Kesrondaias gruben. Mit Erschrecken sah er, wie sich feine Haarrisse auf den Schuppen ausbreiteten und mit knallendem Bersten zu Brüchen wurden. Kristallsplitter flogen in alle Richtungen davon, und eine schimmernde Flüssigkeit trat unter dem Panzerkleid hervor. »TU ES«, donnerte Kesrondaia schmerzerfüllt.
Da presste der Junge die Lippen zusammen, atmete tief ein, und mit einem Schrei rammte er die brennende Klinge Esdurials in Kesrondaias unter Qualen entblößte Brust. Mit der Kraft der Verzweiflung riss er das Schwert herum, um die Wunde zu vergrößern und zog es dann wieder heraus. Gleißendes Licht brach aus der Öffnung im Leib der Kristalldrachin hervor.
Kesrondaias Brüllen erschütterte den Felsendom.
Kaum bei Sinnen ließ Tarean sein Schwert fallen und warf sich nach vorne. Er wusste: Würden in diesem Moment die Kräfte der Kristalldrachin versagen und ihr tonnenschwerer Körper über ihm zusammenbrechen, gäbe es keine Rettung mehr für ihn. Dann wäre er tot, schlicht und ergreifend.
Oh ihr Dreigötter, mein Leben liegt in eurer Hand, betete er lautlos, als er seinen rechten Arm bis zur Schulter in die klaffende Wunde stieß.
Es fühlte sich an, als greife er in eine Sonne. Alle Schmerzen, die ihm sein Körper bis dahin bereitet hatte, verblassten vor den unvorstellbaren Qualen, die sich in seinem Arm entzündeten. »Ich finde ihn nicht«, heulte er verzweifelt, während seine Finger blind im Leib der Kristalldrachin umhertasteten und dabei nichts als flüssige Lava zu entdecken schienen.
»ETWAS TIEFER«, dröhnte Kesrondaias Stimme in seinem Geist. »DU HAST IHN FAST ERREICHT.«
Tarean reckte und streckte sich und presste seine schmächtige Knabengestalt gegen den riesenhaften Kristallberg, der vor ihm aufragte. Da! Auf einmal spürte er mit seinen Fingerspitzen etwas Hartes, das sich wie die Strahlen eines Sterns anfühlte.
»RASCH!«
Er drängte mit aller Kraft vorwärts und mit einem Mal hielt er den sternförmigen Kristallklumpen in den Fingern. Sofort riss er den Arm aus der Wunde und wurde von Iegi, der hinter ihn getreten war, unter Kesrondaias Körper hervorgezogen.
Keinen Augenblick zu früh. Kaum hatten sie sich zwei Schritt vom Schädel der Kristalldrachin entfernt, als der Druck der gespannten Ketten um ihren Leib zu viel für sie wurde, ihre Beine unter dem furchtbaren Gewicht nachgaben und sie mit ohrenbetäubendem Poltern zu Boden krachte, blutend, zerschunden und zu Tode erschöpft. Ein letztes Mal öffnete Kesrondaia die Lider. »Viel Glück … Tarean.« Dann fielen ihr die Augen zu, der ganze Leib entspannte sich unter einem ergebenen Schnaufen, und ihr Geist entglitt in die Tiefen der Bewusstlosigkeit.
Dir auch, Kesrondaia, dachte der Junge mit einem Gefühl, als habe sich eine eisige Klaue um sein Herz geschlossen. Dir auch. Er warf einen Blick auf den Sternkristall, den er dem Leib der Kristalldrachin entrissen hatte. Er hatte in etwa die Größe eines Kinderkopfs, und Dutzende fingerlanger, vielfach facettierter Spitzen gingen von seiner Mitte aus, sodass er tatsächlich an einen kleinen Stern erinnerte. Im Inneren des leicht milchigen Kristalls glomm ein silberweißes Licht, und er fühlte sich warm in Tareans Händen an, beinahe wie ein lebendiges Wesen.
Sein Freund packte ihn am Oberarm. »Alles in Ordnung?«
»Au.« Der Junge verzog schmerzhaft das Gesicht. Es war der Arm, der eben noch bis zur Schulter im glühenden Inneren von Kesrondaias Kristalldrachenkörper gesteckt hatte, und er
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