Target 5
seine Handschuhe an dem glatten Eis festzukrallen und das Gleichgewicht wiederzufinden. Seine Stiefel pendelten in der Luft und suchten nach Sprossen, die er nicht sehen konnte. Er fühlte, wie seine Hände den Halt verloren und langsam von der vereisten Sprosse abrutschten. Dann fand ein Fuß Halt an einer Sprosse. Damit konnte er einen Teil des Gewichts auffangen. In der nächsten Sekunde hatte Beaumont auch den zweiten Fuß wieder auf der Leiter. Während er nach Luft schnappte, riskierte er einen Blick nach unten auf das Deck und sah die winzigen Gesichter, die zu ihm hochschauten. Er wartete, bis sein Puls sich normalisiert hatte und setzte seinen Aufstieg fort.
Das nächste Hindernis war die Saling. Die Stahlleiter endete direkt unterhalb, da sie, so nahm Beaumont an, durch eine Klapptür in den Ausguck geführt hatte, in dem Carlson den Tod gefunden hatte. Jetzt mußte er über sie hinwegklettern und anschließend über die Saling steigen, bevor er sich rittlings auf sie setzen und den Riemen an seiner Brust an den Mast über ihm befestigen konnte. Er war fast dreißig Meter über dem Deck. Bevor er dieses schwierige Manöver in Angriff nahm, streckte er eine Hand hoch, um die Segeltuchpolsterung, die um die Saling gewickelt war, zu untersuchen. Er stellte fest, daß sie verrutschte und daher keinen sicheren Sitz bot.
Es dauerte zehn qualvolle Minuten, bis er sich über die Saling gezogen und auf die Segeltuchmanschette gesetzt hatte, den Mast zwischen den Oberschenkeln. Er mußte den zweiten Riemen in einer Schleife um den Mast legen. Zum Schluß verband er die Anschlußklemmen des Funkgeräts mit dem Kasten, der schon an dem Mast hing. Erst dann spürte er, daß sein Körper unter der Kleidung in Schweiß gebadet war und daß ihm Schweiß das Gesicht herunterlief. Er tastete nach einem Taschentuch in seiner Manteltasche und wischte über sein Gesicht. Eistropfen lösten sich von seiner Stirn. Bevor er Verbindung mit der Brücke aufnahm, schaute er sich um. Die Aussicht war überwältigend.
Er schob eine Seite der Kapuze zurück, um zu horchen. Er hatte es sich also nicht eingebildet: Unheimliche quiekende und quietschende Geräusche hallten über das Eis, denen ein dumpfes Donnern folgte – wie von einem vulkanischen Ausbruch. Er konnte die Quelle dieses Rumorens erkennen – weniger als einen Kilometer von der Elroy entfernt. Eis wände, die aus seiner Höhe und Entfernung nicht größer schienen als kleine Wellen, schichteten sich nach und nach auf und krochen über das Eisplateau, weg von der Elroy in südliche Richtung. Während er schaute, erschien ein Streifen dunklen Wassers, der in entgegengesetzter Richtung zur Elroy breiter wurde. Das Geräusch von knackendem Eis erfüllte die Nacht, Eis, das einander zerbrach. Die Wasserrinne wurde immer weiter und öffnete sich schließlich zu einem dunklen Gürtel, der der Ozean sein mußte. Die Elroy mußte zu dieser Rinne durchbrechen.
Der Riemen am Mast engte Beaumont ein. Trotzdem drehte er sich um und schaute über das Heck hinweg. Eine offene Rinne, weniger als einen Kilometer lang, erkannte er hinter dem Schiff, und weit hinten, am Ende dieser Rinne, lag das Wrack des sowjetischen Hubschraubers, den Beaumont zu dem Schiff geflogen hatte. Er hatte die Maschine absichtlich unter dem Bug der Elroy gelandet, und später hatte Schmidt den Rest erledigt. Eine kurze Strecke hatte er das Schiff rückwärts laufen lassen und dann in das Eis gerammt, gegen die Maschine, die am Rand des Eises stand. Dann hatte der Bug die Überbleibsel des Hubschraubers mitgeschleppt und sie in das Wasser fallen lassen. Aber nicht das Ende der Rinne interessierte Beaumont; mit Entsetzen nahm er etwas wahr, was weit dahinter lag.
Von einer aufkommenden Brise aus dem Norden getragen, kroch eine schwarze Wolke auf das Schiff zu. Es waren Nebelwolken, die sich von dem Nebel, der Target 5 umlagert hatte, deutlich unterschieden. Ein schwarzer Vorhang, Hunderte von Metern hoch, glitzerte unheilvoll im Mondlicht. Eine Eisnebelbank trieb auf das Schiff zu. Es war das am meisten gefürchtete Phänomen in der Arktis. Beaumont starrte auf diese Bank gefrorenen Nebels, eine seltene und äußerst heimtückische Wettererscheinung. Sie kann Erfrierungen verursachen, die eine sofortige Amputation erforderlich machen, wenn der Eisnebel sich um einen Menschen legt. Wenn er Beaumont auf dem Mastkorb erwischte, würde er innerhalb von Sekunden sterben. Schon breitete sich dieser Nebel über die
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