Taschenlehrbuch Biologie - Evolution - Oekologie
nur gültig sind, wenn die Variabilität aller Merkmale unabhängig voneinander und vergleichbar ist. Dies ist bei molekularen Merkmalen nur partiell, bei morphologischen Merkmalen nicht erfüllt. Aus diesem Grund ist die Interpretation der Ergebnisse häufigunklar. Alternativ zu den zuvor beschriebenen Techniken wird manchmal für molekulare Merkmale die Technik der Split-Analyse angewandt. Diese Technik und Abwandlungen davon stellen Konflikte in den Daten graphisch in Form von Netzwerken dar.
Besonders durch die Verwendung molekularer Daten hat sich die Computerunterstützte Phylogenetik auch zu einem sehr wichtigen Feld der theoretischen Biologie entwickelt. Die Entwicklung und formale Analyse der Eigenschaften neuer Rekonstruktionsverfahren wurden gleichermaßen in der Biologie und der Mathematik aufgegriffen und haben zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen diesen beiden Forschungsgebieten beigetragen. Die Phylogenetik gehört heute zu den produktivsten Forschungsfeldern der theoretischen Biologie.
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Parsimonie: Prinzip der sparsamsten Erklärung, Wahl der Hypothese mit den geringsten Widersprüchen oder Zusatzannahmen.
Kladogramm: Stammbaumdarstellung.
Kladistik: Wörtlich: Verzweigungskunde, computergestützte Stammbaumkonstruktion. Merkmale in der Kladistik: Zweiwertige Merkmale liegen in zwei Ausprägungen vor, mehrwertige Merkmale liegen in mehr als zwei Ausprägungen vor.
Heuristische Suche: Versuch mithilfe vieler zufälliger Veränderungen gefundener Bäume einen optimalen Baum zu finden.
Bootstrapping, Jackknifing, Bremer-Support: Techniken zur Abschätzung der Zuverlässigkeit der Stammbaumsuche.
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8.4 Spezielle Aspekte von molekularen Merkmalen
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Molekulare Merkmale stehen in großer Zahl zur Verfügung. Sie können zum einen in Form von Nucleotidsequenzen aus Ribonucleinsäuremolekülen (DNA, RNA) vorliegen, zum anderen in Form von Aminosäuresequenzen aus Proteinen. Der entscheidende methodische Vorteil molekularer Daten gegenüber z. B. morphologischen ist, dass sie für alle Organismen mit denselben Labor-Techniken gewonnen werden können. Der wesentliche Unterschied zu nicht-molekularen Merkmalen ist, dass die Zahl der möglichen Ausprägungen exakt anzugeben ist: fünf im Fall der Ribonukleinsäuren (die vier Basen plus das Fehlen einer solchen) bzw. 22 im Fall der Proteine (21 Aminosäuren und ebenfalls das Fehlen an einer bestimmten Stelle der Sequenz).
Mehrere computergestützte Verfahren zur Analyse molekularer Daten wurden entwickelt, die wichtigsten sind Maximum Parsimonie ( MP ), Maximum Likelihood ( ML ), Neighbour-Joining ( NJ ) und Bayessche Analyse .
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Die Einbeziehung molekularer Merkmale in phylogenetische Analysen hat diesem Forschungsfeld viele neue Impulse verliehen. Ganz besonders spielt die statistische Auswertung der Ergebnisse eine große Rolle.
Im Prinzip können molekulare Merkmale in einer phylogenetischen Analyse genauso behandelt werden wie morphologische, ethologische oder physiologische. In der Praxis sind mit der Einbeziehung molekularer Merkmale einige besondere Probleme verbunden.
Der größte Teil der molekularen Daten in phylogenetischen Analysen sind heutzutage Sequenzdaten , entweder Nucleotidsequenzen oder übersetzte Aminosäuresequenzen von proteincodierenden DNA-Abschnitten. Hier erhebt sich das Problem der Homologisierung in besonderer Weise, denn ein einzelnes Nucleotid beziehungsweise eine einzelne Aminosäure weisen extrem wenig Möglichkeiten von Ähnlichkeitsbeziehungen auf. Einzelne Nucleotide können maximal vier Merkmalszustände bzw. eine einzelne Aminosäure maximal 20 Merkmalszustände präsentieren. Durch diesen Umstand bedingt ist es schwer, Nucleotid/Aminosäureidentität zweier Sequenzen aufgrund von Verwandtschaft, Zufall oder Rückmutation zu unterscheiden. Der stetig ablaufende Prozess der Substitutionen in Populationen führt zu einer hohen Rate an Rückmutationen, was im extremen Fall zu einem vollkommenen Verlust verwandtschaftsbedingter Ähnlichkeit zugunsten zufallsbedingter Ähnlichkeit führen kann. Man spricht in diesem Fall von einer Sättigung der Variation.
Auch bei der Verwendung molekularer Merkmale ist es erforderlich, vor einer Stammbaumrekonstruktion Merkmalshomologien zu formulieren. Auch hier sind Homologiehypothesen hierarchisch geschachtelt zu formulieren. Für zwei homologe Genabschnitte zweier Arten müssen homologe Positionen dieser Genabschnitte bestimmt werden, die wiederum zwei
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