Tate Archer – Im Visier des Feindes: Band 1 (German Edition)
Wahrscheinlich hast du heute noch mindestens dreihundertsiebzig Gramm Kohlenhydrate einzunehmen. Und Eiweiß. Mindestens fünfzig …«
»Ich kann das heute Abend nicht alles essen. Im Ernst, ich will nur …«
»Tate.« Seine Stimme spießt mich auf. »Morgen wirst du leiden. Und wenn du so nachlässig bist, verlierst du Muskelmasse.«
Ich gehe zum Tisch und setze mich hin. Er dreht mir den Rücken zu und widmet seine Aufmerksamkeit – in dem Wissen, dass unser Streit vorbei ist – wieder dem Essen. Er hat breite Schultern und einen v-förmigen Oberkörper, der unter dem eigens für ihn angefertigten Oxfordhemd schlank und muskulös wirkt. Ich bin glücklicherweise genauso gebaut, aber mein Körper ist noch nicht ganz so ausgereift. Ich bin beinahe so groß wie er, dank gefühlter tausend Jahre mit schlimmen Wachstumsschmerzen, aber ich bin bei Weitem nicht so breit und muskulös. Für jedes Gramm Muskelmasse habe ich gekämpft und mich geschunden und ich will ganz bestimmt keins davon verlieren. Das weiß er.
Er nimmt sich die Zeit, unser Essen auf richtige Teller umzufüllen, anstatt es wie sonst in den Plastikschalen zu lassen. Ich stehe auf und hole uns Gabeln und Messer, weil ich seinen Anblick nicht mehr ertragen kann und irgendetwas machen muss, damit ich nicht wegrenne. Als ich zurück an den Tisch komme, sitzt er schon da und hat eine Stoffserviette auf seinem Schoß. In dem Glas neben seinem Teller sind genau hundert Milliliter Rotwein. Seine Finger trommeln, trommeln, trommeln. Ich denke, das dürfte seine einzige schlechte Angewohnheit sein, wenn man nicht mitzählt, dass er mir ständig auf den Sack geht.
Ich lasse mich auf dem Stuhl nieder und bemerke zum ersten Mal den brennenden Schmerz in meinem rechten Bein, ein Geschenk von Kuhauge und zugleich eine hervorragende Erinnerung daran, wie erbärmlich ich bin. Ich beiße die Zähne zusammen und bewahre einen neutralen Gesichtsausdruck, aber dem Blick meines Vaters entgeht nichts.
»Du hast dich heute verletzt.«
Niemals verschwendet er Zeit damit, Fragen zu stellen, wenn er die Antwort bereits kennt. So brauche ich mir nicht die Mühe zu machen, ihm zu antworten. Ich schiebe mir eine Gabel voll Nudeln in den Mund und kaue.
»Und du hast dich nach dem Match nicht verarzten lassen.«
Kauen, kauen, kauen, schlucken. Einen Happen Spinatsalat, bitter auf meiner Zunge. Kauen.
Sein Kiefer verspannt sich. Er nimmt einen Schluck Wein. Meine Augen wandern durch den Raum, zu der Pokalvitrine. Die Beleuchtung ist eingeschaltet und strahlt eine leere Stelle an, die eigentlich gar nicht leer ist. Sie ist bis zum Bersten mit meinem Versagen gefüllt.
Ich wende den Blick ab. Ein Bissen Brot, pikant und süß. Kauen.
Er streicht die Serviette in seinem Schoß glatt. »Und Chicão hat dich nicht nach Hause gebracht.«
Ich hebe den Blick von meinem Teller. »Er hat dich angerufen.«
»Nein, ich habe ihn angerufen.«
Ich atme schwer durch die Nase aus. Jetzt. Geht’s. Los. »Um nach mir zu fragen?«
»Ist es abwegig, dass ich wissen will, wie sich mein Sohn in einem so wichtigen Wettkampf macht?«
»Nicht abwegiger als die Vorstellung, dass du deinen Sohn selbst anrufen könntest, um das rauszufinden.« Ich spüre etwas Seltsames zwischen meinen Fingern und begreife, dass ich das Brot in meiner Faust zu einem klebrigen Klumpen zermatscht habe.
Er nickt und presst die Lippen zusammen. »Es ist nur logisch. Ich dachte, es könnte besser sein, sich die Information vorab von einem Dritten zu holen.«
Ich lasse das verstümmelte Brot auf meinen Teller fallen. »Weil du dachtest, ich würde dich anlügen?«
»Nein, weil ich dachte, es wäre so leichter für dich.«
»Sieht es leicht aus?« Mein Herz schlägt gegen meine Rippen und mein Magen ist verkrampft.
Er seufzt. »Tatsächlich sieht es unnötig schwierig aus. Chicão hat mir von dem Halbfinale berichtet. Er meinte, du hättest den Kerl schlagen können.«
Ja. Ja, hätte ich. »Das ist irre. Der Kerl hat das ganze verdammte Turnier gewonnen. Er hat alle Gegner gezwungen, sich zu unterwerfen. Es ist nicht so, als ob …«
»Das einzig wahre Versagen im Leben ist, nicht ehrlich zu den Besten zu sein, die man kennt«, unterbricht mich mein Vater ruhig.
Mein Lachen hat einen sauren Geschmack. Ich hasse dieses Spielchen. »Du zitierst Buddha? Komm schon, Dad, das kannst du doch besser. Wie wär’s mit ein bisschen Sun Zi? Es geht doch nichts über Die Kunst des Krieges beim Abendessen.«
»Es
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