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Tatjana

Tatjana

Titel: Tatjana Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Cruz Smith
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Versprechen einer Belohnung für den Finder. Bei diesem Notizbuch fehlt das alles. Da steht zwar der Name Natalja Gontscharowa, Puschkins Frau, aber sie war natürlich eine historische Figur und obendrein ein Flittchen.« Der emeritierte Professor holte Luft und kehrte zur ersten Seite zurück. »Bei so wenigen tatsächlich beschrifteten Seiten lässt es sich schwer sagen, aber es scheint ein Notizbuch zu sein, wie es für gewöhnlich von Journalisten oder Konsekutivdolmetschern benutzt wird. Da einige allgemein verständliche Symbole verwendet wurden, würde ich sagen, dass es sich um das Notizbuch eines Konsekutivdolmetschers handelt. Teilnehmer A spricht in einer Sprache, die der Dolmetscher in einer zweiten Sprache an Teilnehmer B weitergibt. So geht es hin und her. Wenn er sich gute Notizen macht, kann er eine vollkommene und akkurate Übersetzung liefern, egal, ob die Teilnehmer eine Minute oder zehn sprechen. Das ist eine erstaunliche geistige Leistung.«
    Arkadi war verwirrter denn je. Jede Seite war in vier Spalten unterteilt, mit einem schwindelerregenden Sonnensystem aus Hieroglyphen, Halbwörtern und Diagrammen. Er kam sich wie ein Angler vor, dem im tiefen Wasser etwas an den Haken gegangen ist, ohne dass er eine Ahnung hat, was es sein könnte.
    »Von diesen Seiten kann ein Dolmetscher ein komplettes Gespräch rekonstruieren?«
    »Ja. Und sind sie nicht wunderbar? Abgesehen von den Pfeilen, die für ›aufwärts‹ und ›abwärts‹ stehen. Eine unebene Linie für ›Schwierigkeiten‹. Eine Schleife und ein Pfeil bedeuten ›demzufolge‹. Genial. Ein Ball und eine Linie für ›vorher‹; eine Linie durch den Ball für ›jetzt‹. Ein Dolmetscher denkt sich ein neues Symbol aus, und andere Dolmetscher folgen. Da wird Sprache vor Ihren Augen geschaffen. Ein Ball in einem dreiseitigen Kasten? ›Ein Ziel‹, natürlich. Gekreuzte Schwerter? ›Krieg‹. Ein Kreuz? ›Tod‹.«
    »Dann sollten auch wir es lesen können.«
    »Nein.« Kunin war ebenso entschieden.
    »Warum nicht?«
    »Das sind nur die allgemein akzeptierten Symbole. Ich kann sie für Sie aufschreiben. Der Rest stammt von ihm. Wir kennen den Kontext nicht.«
    »Wenn wir den wüssten, könnten wir dann die Notizen lesen?«
    »Vermutlich nicht. Das ist keine Sprache und auch keine Stenografie. Dolmetschen ist ein System persönlicher Stichworte. Kein Dolmetscher gleicht dem anderen, und kein System gleicht dem anderen. Für den einen Dolmetscher könnte das Symbol für ›Tod‹ ein Grabstein sein, für einen anderen ein Schädel, und für wieder einen anderen ein Kreuz wie das hier. Symbole für ›Mutter‹ durchlaufen das ganze Spektrum. Katzen können unheilvoll oder behaglich bedeuten.«
    »Für mich sehen die nicht warm und flauschig aus.«
    »Schauen Sie, die Doppeldreiecke können eine Karte sein, eine Konstellation oder eine Route mit vier Haltepunkten.«
    Arkadi hatte diesen Umriss schon einmal gesehen, bekam es aber nicht recht zu fassen. Er bemühte sich, nicht zu sehr darüber nachzudenken, denn Antworten kamen, wenn man die Gedanken wandern ließ. Stalin pflegte immer wieder Wölfe zu zeichnen.
    »Oder ein Fahrradrahmen«, sagte Arkadi. Er erinnerte sich, mit Schenja in einem Fahrradladen gewesen zu sein. Von der Decke hingen Fahrradrahmen in verschiedenen Farben. »Jemand hat ein Fahrrad gebaut.« Er vertiefte die Vorstellung. »Ein teures Rad für einen ernsthaften Radfahrer.«
    »Das können Sie nicht genau wissen.«
    »Es wurde maßgefertigt. Nicht nur eine Klingel, die an den Lenker geschraubt wurde.«
    »Renko, ich ziehe eine Sauerstoffflasche hinter mit her. Sehe ich so aus, als wüsste ich etwas über Fahrräder?«
    Und das war’s. Abrupt fiel Arkadi nichts mehr ein. Er war so weit gegangen, wie ihn dieser dünne Ast an Mutmaßungen tragen konnte.
    »Spreche ich mit Leutnant Stasow?«
    »Ich lege Sie auf die Warteschleife.«
    »Sagen Sie dem Leutnant, dass der Leitende Ermittler Renko von seinem Handy aus Moskau anruft und mit ihm sprechen möchte.«
    »Sie sind der Erste in der Schleife.«
    Arkadi blieb für zwanzig Minuten der Erste in der Schleife, Zeit genug, um in seine Wohnung zurückzukehren und eine abgestandene Tasse Kaffee aufzuwärmen.
    Schließlich ertönte eine Stimme so tief wie ein Fass.
    »Leutnant Stasow.«
    »Leutnant, ich brauche nur eine Minute Ihrer Zeit.«
    »Wenn Sie aus Moskau anrufen, muss es wohl wichtig sein«, sagte Stasow. Arkadi konnte sich vorstellen, wie Stasow seinen Kumpeln im

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