Tatort Mallorca - Die Tote in der Moenchsbucht
und, ritsch, ratsch, fällt die Frucht, bereits lose am Stiel, zu Boden. Sie beginnt zu weinen. Der Mann geht mit ihr auf dem Arm in die Hocke, klaubt das heruntergefallene Stück Obst vom Boden auf, wiegt es in seiner Hand. Gwen grapscht danach und lacht wieder.
Ein paar Jahre später, der Stamm der Bäumchen ist dicker geworden, ihre Höhe und Breite wird durch Beschneiden konstant gehalten, hilft sie beim Pflücken. Sorgfältig legte sie eine Frucht nach der anderen in ihren Korb, ebenso wie der Mann und die übrigen Leute, die über den Hügel und in den Reihen arbeiten. Sie ist inzwischen so groß, dass sie bis zur halben Höhe der Bäume greifen kann. Wenn sie davor steht, meint Gwen manchmal, sie ächzen zu hören, oder sie flüstern ihr Dinge zu. Erzählt Gwen den Erwachsenen die Geschichten der Apfelbäume, lachen sie Gwen aus, nennen sie die kleine Spinnerin .
Wenn sie durch die Spalierreihen tobt, stellt sie sich oft neben ein Bäumchen und ist irgendwann stolz, dass ihr Scheitel bald die Baumspitze erreichen wird. Nur noch zehn, vielleicht auch zwanzig Zentimeter fehlen. Als es endlich soweit ist, ist sie aufgeregt, rennt zum Mann und ruft: „Schau, jetzt bin ich so groß wie die Apfelbäume.“ Gwen ist 13 Jahre alt. Doch der Mann sitzt auf einem Schaufelbagger und beachtet ihren Ausruf nicht. Er ist beschäftigt, mit Hilfe der Maschine alle Bäumchen samt Wurzeln brachial herauszureißen. Sie steht hilflos daneben und weint. Es kommt ihr vor, als würden die Bäume ebenfalls weinen. Sie jammern: „Hilf uns, wir sind noch zu jung, um zu Kompost verarbeitet zu werden. Wir können noch Früchte tragen, unsere Äste sind unverbraucht und stark.“ Niemand außer Gwen vernimmt den Hilferuf.
In ihrer Verzweiflung klammert sie sich an einem der Bäume fest, fleht den Mann an, wenigstens einen zu verschonen, ihr diesen einen zu schenken. Aber der Mann lacht nur. Sie ist nicht mehr sein kleiner Schatz, und wie die Bäume ist sie für ihn zu ausgewachsen. Ihr Körper ist weiblich geworden im letzten halben Jahr. Sie passt nicht mehr in das Kindchenschema. Der Mann hat keinen Blick mehr für sie übrig. Er hat aufgehört, sie zu lieben. Sie hat sich nicht nach seinen Worten gerichtet: „Gwendoline, mein kleiner Schatz, bleib so, hörst du?“ Sie ist nicht so geblieben. Traurig begreift sie, warum er sie nicht mehr lieben kann.
Der Spaziergang durch ihre Kindheit entwickelt sich wie immer zum Albtraum. Gwen holt sich in die Wirklichkeit zurück. Bei den Ereignissen des gestrigen Abends angelangt, muss sie sich eingestehen, dass auch diese die Ausmaße eines Albtraumes angenommen haben. Wut und Trauer ringen in ihrem Inneren miteinander. Das verletzte junge Mädchen, in Resten noch gegenwärtig, fragt: Was habe ich getan, dass der Meister mich verachtet? Die wütende Ärztin fragt: Warum will er mich ausschalten?
Vor drei Jahren, als Gwen aus Süditalien zur Gruppe stieß, war der Meister stolz, dass sie als Ärztin sich ihm anschloss. Bei der gemeinsamen Arbeit im Labor führten sie lange Gespräche, er erzählte ihr von der Trauer um seine Frau. Sie fühlte sich ihm nahe. Ein zärtliches Mitgefühl entwickelte sich für ihn, das, so ihr Eindruck, erwidert wurde. Immer öfter suchte Hetyei ihre Nähe und schätzte ihren Rat. Sicher, obwohl sie sich zu ihm hingezogen fühlte, himmelte sie ihn nicht wie die anderen Frauen an. Nahm er ihr übel, dass sie seine vorsichtigen Versuche abblockte, sich ihr über die Arbeit hinaus zu nähern? Konnte er nicht anerkennen, dass sie nur Kameradschaft wollte? Und hatte sie sich nicht eifrig Pflichten aufgeladen, um ihm dies zu zeigen?
Gwen schüttelt unmerklich den Kopf. Hat sie nicht alles getan, um dem Meister zu helfen? Bei allen Projekten hat sie ihn tatkräftig unterstützt. Obgleich es ihr widerstrebte, hat sie als Ärztin die erforderlichen Eingriffe für die Eizellenentnahme vorgenommen und verantwortlich mit den Kliniken zusammengearbeitet. Hetyei müsste ihr dankbar sein.
Nie wäre er auf Ulla Hönig und ihr Buch aufmerksam geworden, hätte sie ihm nicht von ihrem Erlebnis mit einer Patientin in Sizilien erzählt.
„Wie fühlen Sie sich, Monica? Wir geben Ihnen jetzt ein Beruhigungsmittel, dann erhalten Sie ein Mittel, das Sie einschlafen lässt, bis alles vorbei ist. Sie werden von der Operation nichts merken. Kleinere Herde werden wir gleich entfernen. Haben Sie keine Angst.“
Die Patientin des Krankenhauses in Palermo auf Sizilien nickte.
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