Tatort Oslo - Unehrlich waehrt am laengsten
eine Viertelstunde später beobachtete sie, wie Leif in seiner schwarzen Lederjacke eine prall gefüllte Reisetasche an ihrem Zimmer vorbeitrug, die Haustür öffnete und im Treppenhaus verschwand. Was mochte sich in der Tasche befinden? Vielleicht war der Inhalt ja für die Person bestimmt, mit der er sich treffen wollte. Sie wartete noch eine Weile, doch Leif kehrte nicht mehr zurück.
Perfektes Timing, dachte Franziska um 8.30 Uhr. Sie lag gut in der Zeit und konnte sich sogar noch ein ausgiebiges Frühstück gönnen.
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Nachdem sie das zweite Mal umgestiegen war und nur noch wenige Haltestellen vor sich hatte, wurde ihr doch ein bisschen mulmig zumute. Sie sollte Alexander wenigstens eine SMS schreiben, sonst würde er sie womöglich für ihren Alleingang kritisieren. Würde ihr vorwerfen, vorschnell gehandelt und sich unnötig in Gefahr gebracht zu haben. Aber was sollte schon groß passieren?
Sie unternahm zwei, drei Versuche, doch alles, was sie schrieb, kam ihr ungeschickt und umständlich vor, also ließ sie es bleiben. Seufzend steckte sie ihr Handy zurück in die Hosentasche, während sie skeptisch zur schwelenden Wolkendecke emporblickte. Zumindest hatte sie vorsorglich ihre Gummistiefel angezogen, weil schon seit einiger Zeit Tauwetter herrschte und der Waldboden sicherlich nass und matschig sein würde. Ihren wasserdichten roten Anorak hatte sie lieber zu Hause gelassen, weil die Farbe zu auffällig war. Stattdessen trug sie eine dunkelblaue, für diese Jahreszeit viel zu dünne Windjacke.
Der Bus, in dem außer Franziska nur ein älterer Mann saß, der mit dem Kopf an der Scheibe vor sich hin döste, hatte das Stadtgebiet verlassen, rollte durch schummrige Waldstücke, passierte brachliegende Felder und ein vereinzeltes Gehöft. Zur Rechten konnte sie jetzt den Maridalsvannet ausmachen, dessen Wasseroberfläche von metallisch grauer Farbe war. »Nächster Halt: Hammeren« stand auf der elektronischen Anzeige.
Franziska stieg aus und sah sich nach einem roten Bauernhof um. Da sie keinen entdecken konnte, schlenderte sie aufs Geratewohl die Straße entlang, während ihr Windböen ins Gesicht schlugen. Eine Mütze wäre jetzt eine gute Sache gewesen, doch sie hatte nicht damit gerechnet, dass das Wetter hier draußen ungleich rauer sein würde als in der Stadt. Fröstelnd schlug sie den Kragen ihrer dünnen Jacke hoch.
Gleich hinter der nächsten Kurve fand sie, wonach sie gesucht hatte, und da keine anderen Gebäude in Sicht waren, stapfte sie unmittelbar auf den ochsenblutroten Hof zu, der seltsam verlassen dalag. Menschen und Tiere schienen sich bereits nach drinnen geflüchtet zu haben. Die schwelende Wolkendecke hatte sich mittlerweile stahlblau verfärbt und hing wie ein marmorierter Deckel über den Wiesen. Franziska erblickte einen schmalen, von bleichen Gräsern überwucherten Weg, der wie ein breiter Trampelpfad aussah und direkt in den Wald hineinführte. Das musste der Feldweg sein, von dem die Rede gewesen war. Am Wegesrand erblickte sie einen betagten schwarzen Volvo. Leifs Auto war nicht zu sehen. Sie schaute auf die Uhr. Schon kurz nach zehn. Franziska beschleunigte ihre Schritte.
Sobald sie die erste Baumreihe hinter sich gelassen hatte, war vom Tageslicht kaum noch etwas zu sehen. Im dichten Tannengrün war es so schummrig, dass ihr eine Taschenlampe gute Dienste geleistet hätte. Nur die weißen Schneereste blinkten zwischen den Bäumen hindurch, während der sumpfige Waldboden an ihren Stiefeln saugte. Mit schmatzenden Schritten kämpfte sie sich voran, während der Weg zusehends schmaler wurde.
Nach weiteren zehn Minuten begann sie an ihrer ganzen Unternehmung zu zweifeln. Inzwischen war der durchfeuchtete Pfad, der ihr als einzige Orientierung diente, so schmal geworden, dass sie fürchtete, sich in diesem düsteren Baumlabyrinth zu verirren. Sie wusste, dass hier die sogenannte Nordmarka ihren Anfang nahm – das mehrere hundert Quadratkilometer große Waldgebiet, das sich im Norden an die Stadt anschloss. Wenn sie hier vom Weg abkam, dann hatte sie ein ernsthaftes Problem. Sie warf einen Blick auf ihr Handy. Funkloch.
Als sie schon ihre hirnrissige Idee verfluchte, sich als Privatdetektivin zu betätigen, sah sie ein gelbliches Licht durch die Zweige schimmern. Allmählich zeichneten sich die Umrisse mehrerer weiß umrandeter Fenster ab, die sich vom dunklen Braun einer Hütte abhoben. Vorsichtig trat sie näher heran. Die Fenster waren hell erleuchtet. Franziska
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