Tatort Oslo - Unehrlich waehrt am laengsten
erschrak, als plötzlich die Silhouette eines gedrungenen Mannes hinter dem Fenster erschien. Kein Zweifel, sie war am Ziel.
Sie sah den Mann nur von hinten, doch allein sein Stiernacken und die militärisch kurz geschorenen Haare ließen erkennen, dass es nicht Leif war. Es musste sich um seinen rätselhaften Bekannten handeln, der vermutlich auf ihn wartete. Jedenfalls war sich Franziska ziemlich sicher, dass Leif noch nicht eingetroffen war. Dass er sich verspätet hatte. Sie warf einen prüfenden Blick zurück, damit er sie nicht etwa von hinten überraschte, doch sie starrte nur in undurchdringliches Dunkel. Über ihr grollte der Donner, während die ersten Regentropfen den Weg zu ihr nach unten fanden.
Nahezu lautlos schlich sie auf die Giebelseite der Hütte zu und wollte sich gerade mit dem Rücken an die Wand drücken, als quietschend die Haustür aufschwang. Franziska schnappte nach Luft und hielt den Atem an. Wartete ein paar Sekunden, bevor sie es wagte, um die Ecke zu spähen. Der Mann, der das zerknautschte Gesicht einer Bulldogge hatte, war direkt vor der Tür stehen geblieben und zündete sich eine Zigarette an. Blies den Rauch in die gewittrig aufgeladene Luft. Legte missmutig den Kopf in den Nacken und warf einen grimmigen Blick nach oben. Mit wummerndem Herzen schob Franziska ihre Füße behutsam zur Seite, um sich weiter von der Hausecke zu entfernen. Ihre schweißnassen Hände tasteten sich Zentimeter für Zentimeter an den kalten, rauen Holzlatten entlang.
KNACK !
Sie musste auf einen Ast getreten sein. Für einen Augenblick war es vollkommen still. Dann hörte sie schwere Schritte auf sich zukommen und rannte panisch los. Sie traute sich nicht, den Kopf zu wenden, doch sie wusste, dass der Mann hinter ihr her war.
»Bleib stehen!«
Seine schroffe Reibeisenstimme traf sie wie ein Hieb im Rücken und schien ihre Beine zu lähmen. Die klobigen Gummistiefel hingen wie Bleigewichte an ihren Füßen und sanken mit jedem Schritt in den durchweichten Boden ein. Verzweifelt jagte sie um eine, dann um die nächste Ecke der Hütte und hetzte blindlings weiter. Hinein ins Dunkel. Hinein ins Nirgendwo. Sie umkurvte die Bäume wie Slalomstangen, stolperte über eine Wurzel und konnte sich gerade noch an einem Baumstamm abstützen. Ein umgestürzter Stamm versperrte ihr den Weg, sie sprang darüber hinweg, hörte nur ihr eigenes Keuchen und blickte panisch über die Schulter. Aus dem Augenwinkel sah sie ihren Verfolger, der direkt hinter ihr war. Im nächsten Moment hatte er sie gepackt und schleuderte sie mit dem Gesicht voran zu Boden. Sie wollte schreien, doch ihr Schrei erstickte in einem der Schneereste.
Kapitel 35
Claudia hatte mehrfach versucht, Franziska zu erreichen. Doch zu Hause war niemand ans Telefon gegangen und bei Franziskas Handy sprang sofort die Mailbox an. Claudia machte sich zunächst keine Gedanken darüber. Sie wollte nur fragen, was sie zu essen einkaufen sollte, weil sie heute etwas früher nach Hause kommen würde. Schließlich waren ja Osterferien, und sie hatte sich fest vorgenommen, so viel Zeit wie möglich mit ihren Kindern zu verbringen. Um kurz nach elf erreichte sie Lukas, der von der Übernachtung bei Elias heimgekehrt war. Er hatte bisher weder Leif noch Franziska zu Gesicht bekommen, plädierte aber leidenschaftlich für Pizza und Cola.
»Okay, Pizza und Salat«, willigte Claudia ein. Der übliche Kompromiss.
Als Claudia um kurz nach drei völlig durchnässt in die Küche stapfte und die tropfenden Einkaufstüten auf die Arbeitsplatte wuchtete, hatten sich Leif und Franziska immer noch nicht blicken lassen. Bei Leif war das nichts Ungewöhnliches, aber Franziska pflegte normalerweise anzurufen oder eine Nachricht zu hinterlassen, wenn sie etwas vorhatte, das längere Zeit in Anspruch nahm. Draußen hatte sich der böige Wind zu einem tosenden Sturm ausgewachsen. Der Regen peitschte nur so über die Autos hinweg, die im Schneckentempo durch die Straßen krochen, und Claudia fragte sich beunruhigt, was für eine Jacke Franziska bloß angezogen haben mochte. Sowohl ihr roter Anorak als auch ihre gefütterte gelbe Regenjacke hingen an der Garderobe.
Als sie ins Badezimmer ging, um sich die Haare zu trocknen, stutzte sie. Leifs Toilettensachen waren verschwunden. Sie öffnete den Spiegelschrank über dem Waschbecken. Aftershave, Rasierklingen, auch das Eau de Toilette, das sie ihm zu Weihnachten geschenkt hatte, waren nicht mehr da. Ihre Kehle wurde trocken. Claudia
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