Taubenkrieg
voller Zuversicht sein Nintendogerät in den Rucksack, der jetzt schon bedenklich an den Nähten spannte. Ein achtjähriger Junge hatte viele Kostbarkeiten, auf die er beim besten Willen nicht verzichten konnte. »Aber die Bücher krieg ich echt nicht mehr rein, Mama.« Da musste man wohl Prioritäten setzen. Wencke war zu erledigt, um pädagogisch wertvoll zu agieren. Und das anhaltende Klingeln des Telefons machte sie nervös.
»Soll ich drangehen? Vielleicht ist es Axel!«
»Nein, das ist nicht Axel, bestimmt nicht.« Er hat sich seit drei Wochen nicht mehr gemeldet, fügte sie in Gedanken hinzu. Und dann driftete sie wieder ab in die Grübeleien, ob das nicht auch besser so war, für sie, für ihn, für alle Beteiligten. Seit zwei Jahren, seit ihrer Rückkehr aus Amerika, hatten sie ein Verhältnis, für das es keinen Namen gab. Für eine Affäre war es zu beständig, für eine Freundschaft zu intim. Für eine Liebe aber fehlte die Zeit und die Gelegenheit, entweder war Emil dabei, der nicht mitbekommen sollte, was zwischen seiner |39| Mutter und ihrem ehemaligen Kollegen passierte. Oder es reichte nur für ein verhuschtes, verstecktes Treffen irgendwo zwischen Hannover und Aurich, und das glich dann eher einer Erste-Hilfe-Maßnahme als einem Liebesakt.
Emil hatte zwischenzeitlich doch den Hörer abgenommen. »Es ist die bescheuerte Kosian«, flüsterte er verschwörerisch, und Wencke konnte nur hoffen, dass ihre Vorgesetzte nicht mitbekommen hatte, mit welchem Adjektiv sie in diesem Hause versehen wurde.
»Ich bin quasi schon mit einem Bein im Zug«, stellte Wencke direkt zu Beginn des Gespräches klar. Denn dass dies kein privater Anruf war, ein nett gemeinter Gruß vor der Reise oder etwas in der Art, war klar. Wenn die bescheuerte Kosian anrief, fühlte man sich nach dem Auflegen immer schlechter als vor dem ersten Klingelton.
»Ich weiß, Frau Tydmers. Es tut mir leid, wenn ich Sie störe …« Sie stockte kurz, wahrscheinlich merkte sie selbst, wie unecht ihre Entschuldigung wirkte. »Ach, wir brauchen nicht lange drumrum zu reden, oder? Es gibt Probleme in Meckpomm.«
»Ich habe Urlaub!«
»Die Probleme haben mit Ihrem Gutachten zu tun.«
»Lassen Sie mich raten: Kriminalhauptkommissar Wachtel geht mit dem Ergebnis nicht d’accord?«
»Wenn Sie es genau wissen wollen, Sie haben es sich mit halb Schwerin verscherzt. Der leitende Oberstaatsanwalt Roland Gauly – ein Giftpilz sondergleichen übrigens – hat seine Beschwerde dem Hannoveraner Kollegen gleich schriftlich zukommen lassen.«
»Na und?«
»Die in den Fall neu eingestiegene Staatsanwältin Dr. Maschler hätte Boris gestern am liebsten den Kopf abgerissen, die
Devil Doves
waren eher fürs Vierteilen, sogar die bislang |40| verdächtigten
G-Point -Gangsters
haben ihren Unmut kundgetan.«
»Und was bitte ist denn so schlimm an der These einer Beziehungstat? Dann haben sie wenigstens keinen Grund, sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen.« Dann fügte Wencke etwas entnervt hinzu: »Wenn in einem Raum alles kurz und klein gehauen wird außer dem Tisch und zwei Stühlen, auf denen augenscheinlich zuvor zwei Menschen noch recht friedlich geraucht und nichtalkoholische Getränke zu sich genommen haben, dann ist das für mich eine klare Sache.«
»Ich bin die Letzte, die Sie überzeugen müssen, Frau Tydmers. Für mich ist Ihr Bericht in jedem Punkt schlüssig, professionell und klug durchdacht.«
Au Backe, dachte Wencke. Wenn diese Frau, mit der sie sich schon die wildesten Wortgefechte geliefert hatte, plötzlich auf eine solche Tour kam, war es wirklich ernst.
Und tatsächlich: »Könnten Sie vor Ihrer Abreise noch einmal hier vorbeischauen?«
»In drei Stunden geht unser Zug«, entgegnete Wencke.
»Vielleicht würden Sie einen späteren nehmen? Wissen Sie, besser wir sprechen jetzt noch mal alles durch, als dass ich Sie im Urlaub stören muss. Wir kommen gegebenenfalls für Mehrkosten auf. Gern auch ICE …«
»Nach Ostfriesland fahren keine Schnellzüge …«
»Ich würde Sie nicht fragen, wenn es nicht wirklich wichtig wäre.«
Wencke seufzte. »Ich muss aber meinen Sohn mitbringen.«
»Nicht so schlimm. Wäre ja nicht das erste Mal …«
Diese kleine Spitze im letzten Satz beruhigte Wencke geradezu, sie hatte etwas so angenehm Alltägliches. Die Sache mit Emil war meist Dreh- und Angelpunkt ihrer Streitereien. Es war eben nicht immer einfach, einen aufgeweckten Jungen und zeitgleich eine anspruchsvolle Chefin
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