Taubenkrieg
nahm einen Aufzug ins oberste Stockwerk. Auch die Oberärztin, die in einem Glaskasten über Akten brütete, war ihr bestens bekannt. »Hallo, Frau Dr. Bonenkamp«, begrüßte sie die Weißbekittelte mit Handschlag. »Wir sind hier, um mit Frau Kellerbach zu reden. Es gibt ein paar Fragen zum Tathergang. Ist das möglich?«
Die Ärztin machte ein ernstes Gesicht. »Sie ist bei Bewusstsein, hat aber starke Schmerzen. Ich weiß nicht, ob unsere Patientin schon zu einem Gespräch in der Lage ist. Setzen Sie sich doch bitte einen Moment in den Wartebereich, Frau Maschler!« Die Medizinerin verließ ihr gläsernes Kabuff und ging durch eine Tür, hinter der ein Konzert aus verschiedenen Summ- und Pieptönen zu hören war.
»Mein Vater hat zwei Monate hier verbracht. Schlaganfall. Ich habe ihn jeden Tag besucht. Vor vier Wochen ist er dann gestorben.« Die Staatsanwältin ließ sich auf einen der mager gepolsterten Sitze fallen und schaute sich fast wehmütig um, betrachtete die modernen Kunstdrucke, die eingerahmt an den Wänden hingen. Wahrscheinlich hatte sie diese scheußlichen Bilder tausendmal angeschaut, hatte über die roten Zickzacklinien und blau schattierten Kugeln nachgedacht, während ihr Vater nebenan an Schläuchen angeschlossen im Sterben lag. »Ist mir fast so vertraut wie mein eigenes Wohnzimmer.«
»Zwei Kleinkinder und ein Trauerfall, da haben Sie und Ihr Mann ja sicher eine harte Zeit hinter sich …«
Sie grinste mit einem bitteren Zug um den Mund. »Welcher |198| Mann?« Boris warf einen Blick auf ihre unberingten Hände. »Der Vater meiner Kinder hat sich aus dem Staub gemacht, als es anstrengend wurde.«
Beide saßen sie eine Weile nebeneinander, jeder hing seinen Gedanken nach, wie ein Angehörigenpaar voller Sorge. Boris dachte an die wenigen Dinge, die Sieglind Maschler ihm eben im Wagen erzählt hatte. Von seltsamen Notizen, die ihr unter die Nase gelegt worden waren, war die Rede gewesen. Meinungsmache der verkappten Art. Schon bei ihrem Treffen auf der ersten Pressekonferenz hatte Boris sich gefragt, warum in einem solch medienwirksamen Fall eine eher junge, unerfahrene Staatsanwältin eingesetzt worden war. Normalerweise stritten sich die wichtigsten Köpfe darum, in den Medien abgebildet zu werden.
Jetzt, hier an diesem trostlosen Ort, wurde ihm einiges klar. Der Oberstaatsanwalt Gauly, Duzfreund und Gleichgesinnter des alten Kellerbachs, wollte zwar Strippen ziehen und manipulieren, doch die Verantwortung vor der Öffentlichkeit scheute er. Dafür hatte man Sieglind Maschler in den vermeintlichen Rockerkrieg geschickt, weil diese Frau ohnehin schon an ihre Grenzen gestoßen war. Privat ausgelastet bis zur Halskrause, ging keine Gefahr von ihr aus, dass sie dem Vorgehen ihrer Behörde besonders kritisch begegnen würde.
Ganz offensichtlich schien Gauly sich da in seiner Kollegin getäuscht zu haben.
Dr. Bonenkamp kam zurück. »Sie haben Glück, Frau Kellerbach geht es gerade den Umständen entsprechend gut. Und sie ist bereit, mit Ihnen zu reden. Ich hatte sogar den Eindruck, dass sie es sich wünscht.« Die Ärztin hielt ihnen die Tür auf.
Das Zimmer von Nikola Kellerbach befand sich auf der linken Seite. Ihr Körper war in technisches Wirrwarr gebettet wie in ein Vogelnest. Die bleiche Frau lächelte nicht zur Begrüßung, |199| doch mit solchen Sympathiebekundungen war sie ja auch vor dem Mordversuch sparsam umgegangen. Ob sie in Boris den Mann wiedererkannte, der am gestrigen Morgen in der Villa ihres Vaters viele Fragen gestellt hatte, war nicht auszumachen.
»Hallo, Frau Kellerbach. Wir kennen uns flüchtig, ich bin Staatsanwältin Sieglind Maschler und habe den LK A-Mitar beiter Boris Bellhorn mitgebracht, weil wir ein paar Fragen an Sie haben. Ist das für Sie in Ordnung?«
»Ja.« Ihre Antwort kam schwach. Nikola Kellerbach schien in erster Linie am Körper verletzt worden zu sein, ihr Gesicht war makellos, und auch die Arme zeigten sich – abgesehen von den Zugängen, die ihr gelegt worden waren – unversehrt. Soweit Boris informiert war, hatte eine Kugel die Nierengegend getroffen, während die andere nur das äußere Gewebe im Schulterbereich gestreift und das Schlüsselbein zertrümmert hatte. Diese Verletzungen sprachen eher gegen eine Tötungsabsicht, denn aufgrund der geringen Distanz zwischen Täter und Opfer hätte auch ein Blinder mit Krückstock präziser zielen und das Herz, die Lunge oder eine Aorta treffen können. Bei der Tat war es wohl eher
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