Taubenkrieg
fachlich versierte Meinung zu bilden. Heute weiß ich, wie blauäugig das von mir war.«
Boris bemerkte ein Hinweisschild zur Klinik, dem sie folgten. Sieglind Maschler nahm ihn mit zu einer wichtigen Zeugin. Das musste sie nicht, das durfte sie wahrscheinlich noch nicht einmal. Warum ging sie dieses Risiko ein?
Sie seufzte. »Ich bin ein Verfolgertyp, wissen Sie? Deswegen liegt mir der Job als Staatsanwältin auch mehr als ein Richteramt. Doch seit ich hier bin, kriege ich immer nur die kleinen Sachen, die Bagatelldelikte, Kinderkram. Das ist wohl so, wenn man neu im Job ist und das eigene Leben noch zu organisieren hat.« War das eine Lebensbeichte, oder was?
|195| »Aber jetzt leiten Sie doch den Mordfall Leo Kellerbach. Ist das nichts?«
Sie lachte kurz auf. »Glauben Sie mir, ich war ganz aus dem Häuschen. Endlich eine Geschichte, bei der ich gefordert bin und zeigen kann, was in mir steckt. Da wollte und musste ich alles richtig machen, verstehen Sie?«
»Sogar sehr gut«, antwortete Boris. Auch wenn er nicht so recht wusste, worauf sie eigentlich hinaus wollte.
»Also habe ich die Akten und Vermerke, die mir der Oberstaatsanwalt Gauly auf den Schreibtisch gelegt hat, genau durchgelesen. Auch die Gutachten. Und an denen klebten die meisten Post-it-Notizen.«
Damit meinte sie Wenckes Gutachten, das stand fest. »Dann wird sie aber schwer, die Sache mit der eigenen Meinung, oder nicht? Wenn schon überall Kommentare vom Chef dranheften …«
»Richtig, das ist sogar verdammt schwer. Da wird schon mal die Qualifikation eines Gutachters in Frage gestellt, auch wenn das objektiv falsch ist.«
»Und warum hat Herr Gauly das eine oder andere Gutachten für den allergrößten Blödsinn gehalten?«
Sie zuckte lediglich mit den Schultern.
»Weshalb könnten die maßgeblichen Vertreter der Strafverfolgung wollen, dass die Öffentlichkeit an einen Rockerkrieg glaubt, auch wenn in Wahrheit etwas anderes dahintersteckt?«
Sie sagte wieder nichts dazu.
»Ob es mit Kellerbachs Bürgerwehr zu tun hat? Wie hieß das Ding?« Keine Antwort. »ASMV?«
»Finden Sie es raus, Bellhorn. Sie sind doch der Experte für die Frage nach dem Motiv.«
»Ich habe den Eindruck, dass Sie genau wissen, was es mit Kellerbachs Wunsch nach mehr Sicherheit auf den Schweriner |196| Straßen auf sich hat. Er hat sie vorhin bei der Konferenz angesehen wie eine Komplizin.«
Sie seufzte. »Ich halte diese ASM V-Geschichte für die Spinnerei einiger alter Herrschaften, die gern mal wieder Dorfsheriff spielen wollen. Mein Chef kann sich auch dafür begeistern. Gauly – der Rächer der unbescholtenen Bürger …«
Sie hatten den Besucherparkplatz des Klinikgeländes erreicht. Sieglind Maschler setzte ihr Auto sanft in eine Parklücke.
»Am besten legen Sie gleich los. Viel Zeit haben wir nicht, ich muss meine beiden Racker in einer Stunde bei der Tagesmutter abholen.«
»Womit soll ich loslegen?«, fragte Boris etwas hilflos.
»Ich könnte mir vorstellen, dass Sie die eine oder andere Frage an Frau Kellerbach haben. Ich kann Ihnen nicht versprechen, dass sie wirklich vernehmungsfähig ist. Bislang gibt es keine Aussage, wer sie niedergeschossen haben könnte.«
Boris ließ den Sicherheitsgurt zurückschnappen. »Das ist großartig. Ich danke Ihnen!«
»Schon gut. Als Gegenleistung erwarte ich natürlich Ihre Diskretion. Und übrigens, ich bin jederzeit für Sie erreichbar.« Sie reichte ihm ihre Visitenkarte. »Falls Sie ein paar hieb- und stichfeste Beweise finden, dass an diesem Fall etwas faul ist.«
»Kein Problem, Frau Dr. Maschler, das verspreche ich. Sie dürfen jedes Wort hören, das ich mit Frau Kellerbach wechsle.«
Sie seufzte. »Wenn sie überhaupt in der Lage ist zu sprechen. Ihr geht es sehr schlecht. Aber dennoch sollten wir genau lauschen, was sie zu sagen hat.«
»Warum machen Sie das?«
»Weil ich eine Idiotin bin«, war die Antwort. »Und Ihre Kollegin Tydmers hat mich mit ihrem unkonventionellen Einsatz daran erinnert, dass ich für meine Ideale schon viel zu lange kein Risiko mehr eingegangen bin.«
|197| Auf dem gesamten Klinikgelände schien nichts älter als höchstens zwanzig Jahre zu sein, sah man mal von den Ärzten, Oberschwestern und Patienten ab. Maschler musste hier ein und aus gehen, sie brauchte keinen der umfangreichen Wegweiser zu lesen, um zu wissen, wo sich die Intensivstation C2-I befand. Mit routiniertem Handgriff stellte sie ordnungsgemäß ihr Handy aus, grüßte den Portier und
Weitere Kostenlose Bücher