Taubenkrieg
Dschungel aus Papier und Bytes.
»Was bedeutet diese Notiz?«, fragte Sanders und hielt einen Zettel hoch, auf dem
Tim Beisse
stand.
»Eine Gedächtnisstütze. Er ist ein alter Kinderfreund von Kellerbach, der vor ein paar Wochen in der Stadt gewesen ist. Ich wollte ein bisschen etwas über ihn herausfinden, bin aber |234| noch nicht dazu gekommen.« Boris gab den Namen eher lustlos ein. »Mal sehen, Tim Beisse ist ja ein Allerweltsname, da wird sich einiges finden lassen … Tatsache, schauen Sie, über zweihundertfünfzigtausend Meldungen.« Boris rechnete nach. Wenn dieser Tim Beisse ein Schulfreund von Kellerbach war, würde das Geburtsjahr vielleicht weiterhelfen. 1971 – die Suchmaschine dezimierte sich um die Hälfte. Bei
Wacker Oberpfalz 1971
trainierte ein Tim Beisse die B-Jugend . Boris klickte auf den Bericht und sah einen Mann, bei dem das aktive Fußballtraining schon einige Jahre zurückliegen musste. Kellerbach senior hatte den unbekannten Besucher als schlaksig beschrieben, und das war der Oberpfälzer beileibe nicht.
Also weiter im Programm: Tim Beisse aus Stuttgart berichtete auf seiner Facebookseite über seine Fahrradtour durch Asien. Und zwar seit mehr als sechs Monaten. Derzeit war er in der Mongolei. Sein Körper erschien zudem extrem muskulös. Also auch Fehlanzeige.
Boris reduzierte sich jetzt auf die Bildersuche, wenn das nichts Konkretes ergab, würde er es bleiben lassen. Er scrollte sich durch Partyschnappschüsse, Buchcover mit esoterischen Titeln und Regionalzeitungsausschnitte. Bis er endlich eine kleine, unscheinbare Aufnahme fand. Ein schlanker, ja sogar schlaksig zu nennender Tim Beisse mit Bart. Sehr blass, sowohl die Fotografie als auch die Erscheinung des Mannes. Viel konnte man nicht erkennen, es war kein richtiges Portrait, die Umgebung schien irgendwie wichtiger zu sein als die Person davor. Dabei war das, was man im Hintergrund erkannte, nicht besonders schön. Ein kantiges, heruntergekommenes Gebäude, diagonal vergitterte Fenster, wenn Boris sich nicht täuschte, konnte man sogar Stacheldraht erkennen.
»Was ist das?«, schaltete Sanders sich ein. »Ein Gefängnis? Oder Militärgelände?«
Boris rief die Seite auf und war baff: »Wir sind auf der |235| Homepage eines Opferverbandes gelandet.
Gestohlene Kindheit e. V.
in Berlin …«
Tim Beisses Foto befand sich auf einer Unterseite, die mit dem Titel »Zeitzeugen« versehen war. Neben der aktuellen Aufnahme fand sich ein weiteres Foto, ein Gruppenbild mit vielen Kindern in Reih und Glied, ein Junge in der zweiten Reihe war eingekreist.
Links Tim Beisse (geb. 1971) bei seinem ersten Besuch nach zwanzig Jahren und rechts als Zehnjährige r
. Ein Junge mit einem kräftigen Kinn, einigen Sommersprossen auf der Nase und dem störrischsten Haarwirbel, den man sich vorstellen konnte. Den hatte Boris schon einmal gesehen. Genau diesen Jungen! Auf einem anderen Foto. Mit einem anderen Namen. Ganz bestimmt!
Sanders schaute auf den Bildschirm. »Was hat der Oberstaatsanwalt mit einem Kinderheim in Berlin zu schaffen?«
Boris stand auf und ging zu seiner Jacke. Das nicht ganz legal erworbene Familienbild der Kellerbachs war noch immer in der Tasche verstaut. Gemeinsam mit Sanders verglich er die beiden Fotografien.
»Das ist der Junge.« Beide nickten.
Boris’ Finger flogen über die Tasten. »Tim Beisse wurde am 21. 1. 1971 in Berlin geboren.«
»Aber das Mordopfer stammt doch aus Schwerin, oder nicht?« Als die Website der Kanzlei Kellerbach geöffnet und der Lebenslauf des Anwalts aufgerufen wurde, verstand auch Sanders. »Leo Kellerbach und Tim Beisse wurden am selben Tag geboren. Und sie sahen sich als Zehnjährige verflixt ähnlich. Sie … sind Zwillinge.«
»Das kann nicht sein. Das stünde doch in Kellerbachs Akten. Können Sie noch einmal die Geburtsurkunde heraussuchen? Die müsste im Ordner zwei sein …«
Sanders begann zu suchen.
»Außerdem: Warum hat Kellerbach so gelassen davon erzählt, |236| wenn ihn der Doppelgänger seines Sohnes zu Hause aufsucht?«
»Weil er ihn nicht als solchen erkannt hat. Dieser Typ mit dem Bart sieht doch völlig anders aus als der Rockeranwalt, dessen Foto in den letzten Tagen durch die Presse ging. Da hätte ich auch keine Ähnlichkeiten entdeckt …«
»Aber wenn sie doch Zwillinge sind?«
»Sie sind unabhängig voneinander aufgewachsen, haben wahrscheinlich einen völlig unterschiedlichen sozialen Background, das wirkt sich auf die Ernährung aus,
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