Taubenkrieg
Kopfschmerzen, die sie beim Erwachen in diesem finsteren Verlies gequält hatten, konnten nicht nur auf die taubeneigroße Beule am Scheitel zurückzuführen sein, sondern ließen darauf schließen, dass man sie noch zusätzlich betäubt hatte. Wahrscheinlich mit irgendeinem Zeug, welchem beim offiziellen Apothekenverkauf ein kilometerlanger Beipackzettel beigefügt wurde. K.-o.-Tropfen oder was anderes. Da die
Devil Doves
bekanntermaßen auf einen sicher beachtlichen Drogenvorrat* zurückgreifen konnten, war zu vermuten, dass die Rocker zumindest irgendetwas mit ihrer Gefangennahme zu tun hatten. Anfangs, nach dem ersten Zusichkommen, war Wencke übel gewesen und der erste Schluck Wasser – die Kerkermeister hatten ihr gnädigerweise zwei Plastikflaschen neben das Bett gestellt – nicht lang im Magen geblieben. Das hatte sich inzwischen zum Glück gelegt. Nun war ihr nur noch kalt, jämmerlich kalt. Und wieder lief ihr die nasse Hoffnungslosigkeit über das Gesicht.
Erst dachte Wencke, der Boiler stünde mal wieder kurz vor der Explosion. Doch dann identifizierte sie das Knallen und Scharren als neues, als menschliches Geräusch: Jemand war im Nebenraum. Es hörte sich an, als würde ein Möbelstück verschoben |226| werden, ganz langsam, es musste ein schweres Teil sein, definitiv kein
Billy
-Regal. Und wenn sie sich nicht täuschte, geschah diese Aktion unmittelbar hinter der Tür, die sie vor einigen Stunden beim vorsichtigen Herumtasten in diesem verfluchten Raum erfühlt hatte. Eine Metalltür mit abgerundetem Plastikgriff. Darauf ein gestanztes Schild in Augenhöhe, rund mit diagonalem Strich durch die Mitte – irgendein Verbot, um was genau es ging, war jedoch nur zweidimensional und somit für die blinde Wencke unlesbar. Es ist verboten, den Sinn des Ganzen hier zu kapieren. Es ist verboten, verzweifelt zu sein. Es ist verboten, sich Hoffnung zu machen.
Sobald das Möbelgeschiebe aufhörte, sah Wencke etwas Licht durch die haarfeinen Türritzen scheinen. Keine wirkliche Erleuchtung, aber wenigstens etwas. Die Tatsache, dass man etwas vor ihre Tür geschoben hatte, um das Gefängnis zu tarnen, sprach dafür, dass dieser Ort hier doch nicht so gottverlassen war. Doch in den lichtlosen Stunden hatte sie nicht einen Schritt, kein Husten, geschweige denn Stimmen gehört. Sie war sich bis eben gar nicht mehr so sicher gewesen, ob nicht vielleicht inzwischen die Welt untergegangen war und die apokalyptischen Reiter sie lediglich vergessen hatten.
Aber es gab noch Leben jenseits der Dunkelheit. Und dieses Leben war gerade dabei, den Schlüssel im Schloss zu drehen. Wencke nahm einen großen Schluck Wasser zur Stärkung. Klar hatte sie Angst. Nach Stunden, die nicht wirklich passiert waren vor lauter Nebel im Kopf und Niederschlag aus der Seele, nach solchen Stunden war die Angst allgegenwärtig. Und es war nicht nur denkbar, sondern sehr wahrscheinlich, dass die Personen, die sie hier gefangen hielten, nicht zimperlich mit ihr umgehen würden. Die waren zu allem fähig.
Expect no mercy*
hieß ein Spruch, den sich die
Devil Doves
auf ihre Kutten gestickt hatten. Nein, Gnade erwartete sie nicht.
Doch egal, wer da jetzt inmitten gleißenden Lichts im Türrahmen |227| auftauchte, er beendete immerhin diese feuchtkalte Tortur auf dem Bett mit dem schwedischen Namen.
Ingemar
, jetzt fiel es ihr wieder ein, obwohl ihr der blöde Ikea-Name nicht den geringsten Vorteil brachte in dieser verfahrenen Situation.
|228| Die Vierundvierzig
steht als Zahl für Menschen, die Energie aufwenden, um Dinge zum Guten zu wenden
Boris Bellhorn war ganz elend vor Sorge um Wencke, doch als er endlich wieder im Hotel vor seinem Bildschirm saß und auf die Tastatur hauen konnte, hatte er wenigstens das Gefühl, etwas halbwegs Sinnvolles zu tun. Ermittlungen im Rotlichtmilieu waren nicht seine Welt. Pressekonferenzen mit Menschen, die irgendwie alle Dreck am Stecken zu haben schienen, noch weniger. Aber dass er nun ohne Wissen und Rückendeckung des LKA herausfinden musste, was um Gottes willen gestern mit Wencke Tydmers passiert war, machte ihn fast verrückt.
Er gab den Namen, der ihm seit vielen Stunden schon im Kopf herumspukte, in die Suchmaschine ein.
Roland Gauly
brachte über hunderttausend Ergebnisse, das konnte also Ewigkeiten dauern. Die meisten Einträge befassten sich mit Gaulys Tätigkeit als Leitender Oberstaatsanwalt, nichts Besonderes, nur Pressemitteilungen und so ein Zeug.
Oberstaatsanwalt Gauly fordert drei Jahre
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