Taubenkrieg
das Richtige zu tun. Es gab Menschen, die es so und nicht anders verdienten.
Und der Mensch, der heute im Laufe des Tages in seinem Cabriolet auf der L105 unterwegs sein würde, der war ein solcher Fall. Er fühlte sich so sicher und so im Recht.
Und in Wirklichkeit war er ein Monster, das das Leben einer Familie zerstört hatte.
|245| Deswegen sollte er leiden.
Das alles leuchtete Heide ein.
Der Metallklumpen wog über zehn Kilo. Es war ein altes Getriebe, aus irgendeinem Motorrad ausgebaut, ein Schrottteil, wahrscheinlich stammte es aus dem Bestand der
Devil Doves
. So ein Teil zerfetzte aus dieser Höhe nicht nur die Windschutzscheibe, das war Heide klar. Aber wahrscheinlich warf sie sowieso daneben. Besser zu früh als zu spät, hatte er ihr gesagt. Hauptsache, der Scheißkerl hört die Engel singen, wenn er das Ding auf sich zurasen sieht.
Wenn es vorbei war, würde sie sich in ihren Corsa setzen und nach Berlin fahren.
Niemand würde sie verdächtigen oder verfolgen, und es blieb viel Zeit bis zum Abend, wenn er dann am Flugplatz auf sie wartete.
Wenn dann das Glück für Heide Grensemann Spalier stand.
|246| Die Sechzig
steht als Zahl für den regelmäßigen Lauf der Zeit
Die Einfahrt hätten sie fast verpasst, denn die Straße glich mehr einem landwirtschaftlichen Treckerschnellweg, und das Hinweisschild war klein und schlecht zu lesen. Zudem vermutete man in dieser kargen Umgebung östlich des Schweriner Sees eher freilaufende Kühe oder tieffliegende Gänse als die Außenstelle der Bundesbeauftragten für Stasi-Unterlagen. Aber immerhin: Das Gebäude sah haargenau so aus, wie man sich eine solche Behörde vorstellte.
»Das war früher mal eine Kaserne der Volksarmee«, erzählte Bellhorn, nachdem er sein Auto auf eine der zahlreichen freien Parkflächen gelenkt hatte. Axel parkte seine
Harley
direkt daneben. Sie waren mit verschiedenen Fahrzeugen hierher gekommen, wer konnte schon wissen, welche Trips heute noch auf sie warteten, da war es besser, wenn sie sich unabhängig voneinander mobil hielten.
Das Haus wirkte, als wären die Bauskizzen seinerzeit von einer Schulklasse angefertigt worden, die sich mit perspektivischem Zeichnen und dem Fluchtpunkt beschäftigten. Kein Sims, kein Erker, keinerlei Verzierung, lediglich ein länglicher Quader mit drei Reihen Fenster im akkuraten Abstand übereinander. Das einigermaßen freundliche Gelb war sicher erst in den letzten Jahren auf die Fassade gestrichen worden, damit das Ganze nicht allzu abweisend wirkte. Immerhin sollten die |247| Menschen sich eingeladen fühlen, hier Einblicke in ein Archiv zu nehmen, das mit unangenehmen Themen bestückt ist. Laut Internetseite warteten zweieinhalb Kilometer Akten darauf, die Wahrheit über den vermeintlich besten Freund, den sympathischen Nachbarn, den Ehepartner oder Kollegen aufzudecken. Wer ist loyal – und wer ein Spitzel gewesen? Damals. Vor mehr als zwanzig Jahren.
Axel hatte sich als Westdeutscher mit diesem Thema herzlich wenig beschäftigt. Warum auch? Als die Mauer fiel, hatte er sich gerade bei der Bundeswehr für zwei Jahre verpflichtet. Danach ging es zur Fachhochschule der Polizei. Was kümmerten ihn die Altlasten eines Staates, von dem er immer die Vorstellung gehabt hatte, dass die Welt dort noch bis Mitte der 90er schwarz-weiß gewesen ist?
Und nun steckte er mittendrin in dieser Welt, die gar nicht Vergangenheit war. Zumindest im Fall Kellerbach reichten die Tentakel der Geschichte bis ins das Hier und Heute – und suchten sich neue Opfer, die eigentlich nichts damit zu tun hatten, die eigentlich nur ihren Job machten und sich vielleicht ein wenig zu sehr einmischten, so wie Wencke eben.
Eine junge Frau mit lila Strähne im Haar schien auf sie gewartet zu haben. Freundlich plaudernd führte sie Sanders und Bellhorn durch die Räume, in denen verschiedene Plakate zum Thema ›20 Jahre Aufbruch‹ ausgestellt waren.
»Es ist sehr nett, dass Sie sich für uns Zeit genommen haben. Immerhin ist Sonntag …«, bedankte sich Axel.
»Keine Ursache. Endlich ist hier mal wieder was los!« Sie grinste schief. »Es kommen nicht mehr so viele hierher, wissen Sie. Deswegen haben wir eigentlich nur noch mittwochnachmittags Bürgersprechstunde. Diejenigen, die Fragen zu ihrem Schicksal haben, sind alle schon da gewesen. Manche haben wochenlang über ihren Stasi-Akten gebrütet und waren hinterher völlig fertig.«
|248| »Da müssen Sie und Ihre Kollegen auch seelsorgerische Fähigkeiten
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