Taubenkrieg
haben, oder nicht?« Axel schenkte der jungen Sachbearbeiterin ein Lächeln, von dem er wusste, dass ihm danach immer bereitwillig geholfen wurde, das klappte manchmal sogar noch bei Frauen unter dreißig.
»Wie man’s nimmt. Die meisten schotten sich lieber ab. Das ist ja auch hart, wenn man Schriftstücke findet, auf denen akribisch vermerkt wurde, was eigentlich nur hinter geschlossenen Schlafzimmertüren passieren sollte. Und wenn der Informant dann noch der damalige Ehepartner war …«
»Glauben Sie denn, dass zwischen diesen Aktendeckeln noch viele Geheimnisse darauf warten, entdeckt zu werden?«
Sie betraten einen Raum, in dem unzählige graue Rollregale aneinandergeschoben waren. »Es würde mich wundern, wenn die Schicksale, die hier bei uns eine Art Lagerstätte gefunden haben, alle schon zu Ende erzählt worden wären.«
Axel wurde heiß und kalt. Er hatte eben im Hotelzimmer schon Akten gelesen, bis ihm die Augen brannten. Wie lange aber müsste er sich hier durch die Papiere kämpfen, bis er die Antwort auf die Frage fand, was damals im Frühjahr 1971 wirklich passiert ist?
Die Sachbearbeiterin musste ihm seine Befürchtungen angesehen haben, oder sie kannte den Gesichtsausdruck bereits von den anderen Besuchern, die sich von einem solchen Anblick überfordert fühlten. »Keine Angst, mit unserem Karteisystem finden wir recht schnell, was Sie suchen.« Sie zeigte auf einige Arbeitsplätze, die wie überdimensionierte Schreibtische nebeneinander an der Fensterseite standen. »Jede Person, die in irgendeiner Weise vom MfS erfasst wurde, hat eine eigene Karte.«
»Das läuft noch nicht über die EDV?«
»Upps, haben wir hier im Osten etwa schon elektrischen Strom?« Sie grinste ironisch. »Doch, klar sind die Daten inzwischen |249| digitalisisiert. Aber am Sonntag komme ich nicht so einfach an die Rechner.«
»Und wie viele Karteikarten verwalten Sie hier?«
»Knapp achthunderttausend«, antwortete sie und klang dabei, als sei das eine überschaubare Zahl.
Bellhorn hatte seit ihrer Ankunft noch keinen Ton gesagt, und wenn Axel seine entglittenen Gesichtszüge richtig deutete, würde er auch noch eine Weile sprachlos bleiben. Ja, das hier war etwas völlig anderes, als mit einem Mouseklick mal eben alle Tim Beisses der Welt abzuklappern. Das hier war Knochenarbeit. Und dafür fehlte ihnen definitiv die Zeit.
»Ich helfe Ihnen gern«, bot die Sachbearbeiterin an, setzte sich an einen der Arbeitstische und holte trotz ihrer Jugend eine kleine, knallgrüne Lesebrille aus der Tasche ihres Blazers. »Wonach suchen Sie denn genau?«
Bellhorn zog sich einen Stuhl heran. »Wie diskret arbeiten Sie?«
Sie schaute ihn über den Rand ihrer Brille verwundert an. »Schweigepflicht – ich bin Beamtin!«
»Haben Sie etwas über Staatsanwalt Gauly in den Akten?«
Sie zögerte kurz, dann ein Nicken: »Das weiß ich aus dem Kopf. Er arbeitete damals für das
Ministerium für Volksbildung
, Margot Honecker persönlich war dort seine Vorgesetzte.«
»Wo lag sein Zuständigkeitsbereich?«
»Das Ministerium war unter anderem dafür da, Kinder aus Familien zu holen, in denen es nach Einschätzung der Behörden Bedenken gegen den Erziehungsstil gab. Das konnte sich um Gewalttätigkeit und Verwahrlosung handeln, aber auch um Eltern, die ihren Filius nicht zu einer sozialistischen Persönlichkeit heranzüchten wollten.«
»Welchen Job hatte Gauly da zu verrichten?«
»Er hat als Jungjurist verschiedene Sorgerechtsangelegenheiten betreut.«
|250| »Auch Adoptionsverfahren?«
Sie nickte. »Aber soweit ich informiert bin – und das bin ich relativ umfassend –, war da alles im grünen Bereich. Natürlich sehen wir heute die Anlässe, aus denen Eltern in der DDR das Sorgerecht entzogen werden konnte, in einem völlig anderen Licht. Ausreiseanträge, Fluchtversuche, Kritik am Regime – dies alles waren Gründe, die triftig genug erschienen und nach damaligen Gesetzen einen Eingriff der Jugendhilfe nötig machten.«
»Können Sie nach dem Namen Kellerbach suchen?«
Sie blieb unbewegt sitzen, die Hände auf die Knie gelegt. »Sie scheinen ja wohl die gesamte Schweriner Justizprominenz auf dem Kieker zu haben.«
Axel, der bislang gestanden hatte, setzte sich nun auf die Kante des Schreibtisches. »Es geht um den Mord an Leo Kellerbach – und den Überfall auf seine Schwester Nikola. Wir haben den Verdacht, dass es da auch so eine Geschichte in Ihrem Archiv gibt, die definitiv noch nicht zu Ende erzählt
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