Taubenkrieg
wurde.«
Bellhorn machte weiter: »Es geht um Zwangsadoptionen. Haben Sie von solchen Fälle im Raum Schwerin bereits gehört?«
»Die gab es vereinzelt. Leider …«
Axel seufzte. Warum musste die eben noch so gesprächige Sachbearbeiterin sich nun jede Silbe aus der Nase ziehen lassen? Sie waren nicht hier, um Rätselspiele zu lösen, sie brauchten Beweise, die dazu taugten, einen Mann wie Gauly zu Fall zu bringen – und Wencke zu befreien. »Ganz konkret wollen wir wissen, ob Gauly auch Adoptionen vorgenommen hat, bei denen die eigentliche Herkunft des Kindes verschleiert wurde. Da wurde dann aus einer Michelle Grabowski aus Dresden eine Annett Hagen aus Wismar. Oder der ehemals als Oliver Kretschmar geborene Magdeburger hatte dann |251| Mirco Pritschke, Stralsund, in seinem Pass stehen – und keiner von ihnen hat einen blassen Schimmer davon, dass er schon in den ersten Lebenstagen um seiner Identität beraubt worden ist.«
»Wie sollten solche Menschen zu uns finden, wenn sie gar nicht wissen, dass sie Opfer sind?«, versuchte die junge Frau nun deutlich weniger kooperativ.
»Wir haben Grund zu der Annahme, dass bei einigen solcher Opfer der Name Gauly unter der gefälschten Geburtsurkunde steht. Konkret ist dies bei Leo Kellerbach der Fall …«
»Vorhin, als Sie mich angerufen haben, sagten Sie lediglich, es ginge um eine dringende Sache. Um Amtshilfe sozusagen, dazu sind wir als Behörde ja auch verpflichtet. Hätten Sie mir ausführlicher Auskunft gegeben, für was Sie sich wirklich interessieren, und dass Sie keinen richterlichen Beschluss haben, wäre ich vielleicht doch lieber mit meinem Freund um den See geradelt.«
»Warum?«
»Weil ich in einen Konflikt gerate, wenn ich hier weiter Auskunft gebe.« Man sah ihr an, dass sie wirklich am liebsten aufgestanden wäre und ihnen die Tür gewiesen hätte.
Bellhorn schien sich auch kaum auf dem Stuhl halten zu können vor Anspannung. »Ich könnte mir denken, dass Ihre Aufgabe, mit alten Stasiunterlagen sorgsam umzugehen, Sie immer wieder in Situationen bringt, die schwer zu handhaben sind. Was ist dann bei uns so besonders?«
Sie zuckte mit den Schultern und schien einen Haufen Argumente abzuwägen. »Es hat etwas mit der Diskretion zu tun, auf die Sie eben auch so einen Wert gelegt haben. Wir nennen es Persönlichkeitsschutz.«
»Persönlichkeitsschutz?« Axel konnte es nicht verhindern, er wurde laut. Sein charmantes Lächeln funktionierte schon seit einigen Minuten nicht mehr. »Warum wollen Sie jemanden |252| schützen, der wer weiß wie viele Familien auseinandergerissen hat?«
»Ich schütze nicht die Täter … sondern die Opfer.« Diesen Satz hatte sie nur geflüstert. »Wenn jemand zu uns kommt und nach seiner Vergangenheit sucht, dann muss er sicher sein, dass er und seine Familie von uns geschützt werden. Und dieser Schutz geht auch über seinen Tod hinaus.«
Sie schwiegen einige Atemzüge lang. Die schlanken Finger der Frau sprinteten durch die Karteikarten.
»Ich verstehe«, sagte Axel schließlich. »Kellerbach selbst ist hier gewesen. Er ist es, den Sie schützen wollen, er und seine Familie.«
Die Sachbearbeiterin zog mit schneller Bewegung eine kleine Karte aus der langen, dicht gedrängten Papierschlange. »Hier finden Sie einen Namen, die Akte müssen Sie selbst suchen. Normalerweise funktioniert das hier anders, verstehen Sie? Normalerweise ist immer ein Mitarbeiter anwesend, wenn die Akten rausgehen. Und wenn Sie mich verpfeifen, bekomme ich einen Haufen Probleme. Eine halbe Stunde gebe ich Ihnen Zeit – in der Zwischenzeit muss ich was Dringendes in meinem Büro erledigen. Aber danach gehe ich Fahrrad fahren, ist das in Ihrem Sinne?«
Axel und Bellhorn nickten im Gleichtakt. Auf der Karteikarte stand
Akte Schwerin/1971/Jugendhilfe, Band 29
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Elka Beisse.
|253| Die Siebzig
steht als Zahl für ein Menschenleben
Dieser Ort war dazu gemacht worden, Menschen an ihre Grenzen zu bringen. Wäre Wencke nicht Profilerin, sondern Foltermagd geworden, sie hätte ihren Arbeitsplatz genau so eingerichtet: karge Steinwände, schmutziger Boden, statt direktem Tageslicht eine grelle Energiesparlampe nackt an der Decke – das ganze Programm. Dieser Anblick bot sich einem, sobald man aus der Dunkelheit der Einzelhaft entlassen wurde, was so ungefähr alle zwei Stunden der Fall war. Der Ablauf schien stramm durchorganisiert. Einsames Dämmern und nervenaufreibendes Verhör im regelmäßigen Rhythmus. Dazwischen gab es
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