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Tausend strahlende Sonnen

Tausend strahlende Sonnen

Titel: Tausend strahlende Sonnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khaled Hosseini
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geschlafen, gefurzt und Kissenschlachten veranstaltet hatten. Aber sie begegnete dort immer nur deren Abwesenheit. Und Laila. Was, wie Laila vermutete, für Mami ein und dasselbe war.
    Es gab nur eine Pflicht, die Mami nie vernachlässigte, und das waren ihre täglichen fünf namaz -Gebete. Zum Schluss eines jeden namaz flehte sie, den Kopf gesenkt und die erhobenen Hände nach innen gewendet, dass Allah den Mudschaheddin zum Sieg verhelfen möge. Laila musste sich immer mehr um den Haushalt kümmern. Wenn sie nicht für Ordnung sorgte, nahm das Durcheinander von Kleidung, Schuhen, offenen Reisbeuteln, Konservendosen und schmutzigem Geschirr bald überhand. Sie wusch Mamis Wäsche und wechselte die Laken. Sie holte sie aus dem Bett, wenn es an der Zeit war, zu baden oder zu essen. Sie war es auch, die Babis Hemden und Hosen bügelte. Die Zubereitung der Mahlzeiten blieb schließlich ganz ihr überlassen.
    Wenn sie mit diesen Aufgaben fertig war, kroch Laila manchmal zu ihrer Mutter ins Bett. Sie nahm sie in den Arm, verschränkte die Finger mit den ihren und vergrub das Gesicht in ihrem Haar. Mami rührte sich dann und murmelte etwas. Schließlich kam sie unweigerlich auf die Jungen zu sprechen.
    Eines Tages, als sie so beieinander lagen, sagte Mami: »Ahmad war für Höheres bestimmt. Er hatte das, was man Charisma nennt. Wenn er das Wort ergriff, hörten ihm selbst Leute, die dreimal so alt waren wie er, respektvoll zu. Das hättest du sehen sollen. Und Noor. Oh, mein kleiner Noor. Er zeichnete immer Bauwerke und Brücken. Sein Wunsch war es, Architekt zu werden, um später einmal ganz Kabul nach seinen Entwürfen neu aufzubauen. Und jetzt sind sie shaheed , meine Jungen, Märtyrer alle beide.«
    Laila hörte immer aufmerksam zu und hoffte im Stillen, Mami würde bemerken, dass sie , Laila, kein shaheed war und noch lebte, dass sie hier mit ihr im Bett lag und eigene Wünsche für die Zukunft hatte. Allerdings war ihr klar, dass sich ihre Zukunft mit der Vergangenheit ihrer Brüder nicht messen lassen konnte. Die beiden warfen einen langen Schatten auf ihr Leben. Mami war jetzt die Kuratorin ihres Andenkenmuseums und sie, Laila, bloß eine Besucherin, die an den Mythos ihrer Brüder erinnert wurde.
    »Der Mann, der mit der Todesnachricht kam, sagte, dass Ahmad Schah Massoud, als die Jungen ins Lager gebracht worden seien, persönlich ihre Beisetzung beaufsichtigt und ein Gebet für sie gesprochen habe. Ja, deine Brüder waren zwei so tapfere junge Männer, Laila, dass kein Geringerer als Kommandeur Massoud, der Löwe von Pandschir, Gott segne ihn, ihrem Begräbnis beiwohnte.«
    Mami drehte sich auf den Rücken. Laila rückte zur Seite und legte ihren Kopf auf Mamis Brust.
    »Manchmal«, sagte Mami mit heiserer Stimme, »lausche ich dem Ticken der Uhr im Flur. Dann denke ich an all die Sekunden und Minuten, an die Stunden, Tage, Wochen und Monate, die ich noch zu leben habe. Ohne meine Söhne. Und es ist, als träte mir jemand aufs Herz, so dass ich keine Luft mehr bekomme. Ich fühle mich dann so schwach, dass ich am liebsten sterben würde.«
    »Ich wünschte, ich könnte etwas für dich tun«, sagte Laila. Es war ihr ernst, doch ihre Worte klangen so beiläufig wie das Beileidsbekunden eines freundlichen Fremden.
    »Du bist eine gute Tochter«, erwiderte Mami seufzend. »Leider bin ich dir keine gute Mutter.«
    »Sag so etwas nicht.«
    »Aber es ist wahr. Ich weiß es, und es tut mir leid, meine Liebe.«
    »Mami?«
    »Mm.«
    Laila richtete sich auf und sah ihre Mutter an. In ihrem Haar zeigten sich inzwischen graue Strähnen. Es erschreckte Laila, dass ihre Mutter, die immer drall und rundlich gewesen war, so viel an Gewicht verloren hatte. Ihre Wangen waren eingefallen, die Bluse, die sie trug, warf über den knochigen Schultern Falten, und zwischen Hals und Schlüsselbeinen klafften tiefe Kuhlen. Der Ehering drohte ihr vom Finger zu rutschen.
    »Ich möchte dich etwas fragen.«
    »Was denn?«
    »Du würdest doch nicht …« Laila stockte.
    Sie hatte mit Hasina darüber gesprochen und auf ihren Vorschlag hin das Aspirinfläschchen über dem Ausguss entleert sowie sämtliche Küchenmesser und den Kebabspieß unter der Couch versteckt. Hasina hatte im Hof ein Seil entdeckt und verschwinden lassen. Als Babi seine Rasierklingen nicht finden konnte, war Laila gezwungen, ihm ihre Ängste anzuvertrauen. Sie hatte gehofft, dass er sie beruhigen würde, doch er hockte nur mit hängenden Schultern auf dem Rand der Couch,

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