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Tausend strahlende Sonnen

Tausend strahlende Sonnen

Titel: Tausend strahlende Sonnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khaled Hosseini
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Pflichten nachzukommen, die sie sich selbst auferlegt hatten.
    »Wir haben alles unter Kontrolle. Du kannst gehen, Mädchen, und dich mit irgendwas anderem beschäftigen. Lass deine Mutter jetzt in Ruhe.«
    Laila kam sich nutzlos vor. Sie wanderte von einem Zimmer zum nächsten und lungerte in der Küche herum. Hasina kam in Begleitung ihrer Mutter Nila und verhielt sich ungewohnt zurückhaltend. Auch Giti kam mit ihrer Mutter. Als sie Laila sah, eilte sie auf sie zu, umschlang sie mit ihren knochigen Armen und hielt sie lange Zeit fest an sich gedrückt. Mit Tränen in den Augen sagte sie: »Es tut mir so leid, Laila.« Laila bedankte sich für ihre Anteilnahme. Die drei Mädchen gingen in den Hof hinaus und hockten dort beieinander, bis sie von einer der Frauen beauftragt wurden, Gläser zu spülen und den Tisch zu decken.
    Babi irrte ziellos im Haus umher und suchte, wie es schien, nach irgendeiner Beschäftigung.
    »Haltet ihn mir vom Leib.« Es war das Einzige, was Mami an diesem Vormittag von sich gab.
    Er setzte sich schließlich auf den Klappstuhl im Flur und wirkte in seiner Verzweiflung noch kleiner, als er es ohnehin war. Dann meinte eine der Frauen, dass er den Weg versperre. Er entschuldigte sich und verschwand in seinem Arbeitszimmer.
    Am Nachmittag fuhren die Männer nach Karteh-Seh, wo sie sich in einem Saal versammelten, den Babi für die fatiha angemietet hatte. Die Frauen blieben im Haus. Laila und Mami saßen gleich neben der Wohnzimmertür, wie es sich für die Familie des Verstorbenen gehörte. Die Trauergäste zogen vor der Tür die Schuhe aus, nickten beileidsvoll und durchquerten das Zimmer, um auf einem der Stühle an der Wand Platz zu nehmen. Laila sah Wajma, die alte Hebamme, die sie zur Welt gebracht hatte. Sie sah auch Tariks Mutter, deren Perücke mit einem schwarzen Schal umwickelt war. Sie nickte Laila zu und lächelte traurig.
    Aus den Lautsprechern des Kassettenrekorders tönte eine Männerstimme, die Koranverse vortrug. Dazwischen waren immer wieder Seufzer, rückende Stühle und das Schnäuzen von laufenden Nasen zu hören, unterdrücktes Husten, Getuschel und manchmal auch ein theatralisches, herzzerreißendes Schluchzen.
    Raschids Frau Mariam betrat das Zimmer. Sie trug eine schwarze hijab . Eine Haarsträhne fiel ihr in die Stirn. Sie nahm Laila gegenüber an der Wand Platz.
    Mami wippte mit dem Oberkörper vor und zurück. Laila nahm die Hand ihrer Mutter und legte sie in ihren Schoß, was Mami aber nicht zu bemerken schien.
    »Willst du was trinken?«, flüsterte Laila ihr ins Ohr. »Hast du Durst?«
    Doch Mami antwortete nicht. Sie schaukelte vor und zurück und starrte mit leerem Blick auf den Teppich.
    Angesichts ihrer Mutter und der Trauermienen ringsum tat sich für Laila eine Ahnung von der Schwere des Schlages auf, der die Familie getroffen hatte. Von den versagten Möglichkeiten, den zerstörten Hoffnungen.
    Doch hielt dieses Gefühl nicht lange vor. Sie vermochte den Schmerz ihrer Mutter nicht nachzuempfinden, wirklich nachzuempfinden. Es gelang ihr nicht, den Tod von Menschen zu betrauern, die sie kaum kennengelernt hatte. Sie kannte Ahmad und Noor nur vom Hörensagen. Die beiden waren ihr so fern wie Märchengestalten, wie Prinzen aus Geschichtsbüchern.
    Tarik dagegen war für sie real, aus Fleisch und Blut, Tarik, der ihr Schimpfwörter auf Paschto beigebracht hatte, der gesalzene Kleeblätter mochte, der beim Essen die Stirn runzelte und brummelnde Laute von sich gab, der unter dem linken Schlüsselbein ein rosafarbenes Muttermal in Form einer auf dem Kopf stehenden Mandoline hatte.
    So saß Laila neben ihrer Mutter, trauerte pflichtschuldig um Ahmad und Noor, konnte sich aber mit dem Gedanken trösten, dass ihr wahrer Bruder lebte und wohlauf war.

20
    Es stellten sich Beschwerden ein, unter denen Mami den Rest ihrer Tage zu leiden hatte, Beklemmungen in der Brust und Kopfschmerzen, Gelenkschmerzen und nächtliche Schweißausbrüche, qualvolle Schmerzen in den Ohren und Knoten, die kein anderer ertasten konnte. Babi ging mit ihr zum Arzt, der Blut- und Urinproben untersuchte, Röntgenaufnahmen machte, aber keine akute Erkrankung festzustellen vermochte.
    Mami lag meist im Bett. Sie trug Schwarz. Sie zupfte an ihren Haaren und knabberte am Leberfleck unter der Lippe. Wenn sie ausnahmsweise einmal auf den Beinen war, schlurfte sie durchs Haus und gelangte letztlich immer in Lailas Zimmer, als hoffte sie dort ihre Söhne anzutreffen, die früher in diesem Zimmer

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