Tausend und ein Tag - Orientalische Erzählungen
»Wolle Allah nicht,« rief er aus, »daß ich eine opfernde Hand an dich lege; mag ich bei meinem Fürsten in Ungnade fallen, mag er mich selbst töten lassen, nichts soll die Kraft haben, mich zu solcher Erbärmlichkeit zu zwingen!« Nach solchen Worten kehrte er in das glückliche Arabien zurück.
Der grausame Herrscher forderte Hatems Kopf von seinem Günstling; der aber erzählte, was ihm zugestoßen war. Nuuman rief verwundert aus: »Mit Recht, o Hatem, verehrt man dich wie eine Art Gottheit. Menschen, die das einfache Gefühl der Großmut beherrscht, können alle ihre Güter verschenken, aber sein Leben opfern, das ist eine Handlung, die über allem Menschlichen steht!«
Edelmut und Seelengröße waren beinahe erblich in Hatem-Tais Familie. Nach seinem Tode weigerten sich die Araber, deren Anführer er war, zum Islam überzutreten. Mohammed, der Gesetzgeber, verurteilte sie alle zum Tode; einzig die Tochter Hatems wollte er auf Grund der Erinnerung an ihren Vater schonen. Wie nun das hochherzige Weib die Henker zum Losschlagen bereit sah, warf sie sich Mohammed zu Füßen und beschwor ihn, ihr das Leben zu nehmen: »Nimm deine unselige Wohltat zurück,« sprach sie zu ihm; »sie würde für mich ein tausendmal schändlicheres Verbrechen sein als das, so du meinen Stammverwandten vorbereitest; verzeihe allen, oder laß mich mit ihnen sterben.« Mohammed ließ sich durch ein so edelmütiges Gefühl rühren, nahm das verkündete Urteil zurück und begnadigte zugunsten Hatems Tochter den ganzen Stamm.
Nach dem Tode Hatem-Tais trachtete sein Bruder danach, ihn zu ersetzen. Seine Mutter Cherbeka wiederholte ihm unaufhörlich, daß er niemals dem gleichkommen werde, der so verdienstvoll gewesen war. Da er nach Hatems Beispiele alle aufnehmen wollte, die gewöhnlich zu seinem Bruder kamen, ließ er das große Zelt aufschlagen, in dem der Araberfürst zu seinen Lebzeiten alle Bittsteller empfangen hatte. Dieses Zelt hatte siebzig Türen; Cherbeka hatte sich als armes Weib verkleidet und trat, ihr Gesicht dicht verschleiert, in das Zelt ein; ihr Sohn erkannte sie nicht und gab ihr ein Almosen; im gleichen Anzuge kam das Weib durch eine andere Tür zurück und erschien wieder vor seinen Augen. Als der neue Wohltäter die gleiche Frau wieder erblickte, die aus seiner Hand Almosen empfangen wollte, fuhr er sie hart an, indem er sie ob ihrer Zudringlichkeit tadelte. Da sprach Cherbeka, den Schleier lüftend: »Habe ich mich getäuscht, o lieber Sohn, als ich dir versicherte, du würdest niemals Hatem gleichkommen? Wie ich eines Tages deinen Bruder prüfen wollte, verschleierte ich mich auch so und trat nacheinander durch alle siebenzig Türen dieses selben Zeltes ein, und siebenzigmal habe ich Wohltaten von seiner Hand empfangen. Und ich wußte seit eurer zartesten Kindheit, daß eure Gemütsarten verschieden sind. Dein Bruder Hatem wollte die Brust nicht nehmen, wenn nicht noch ein anderes Kind meinen Busen mit ihm teilte; du hingegen wolltest, während du an einer Brust säugtest, auch die andere nehmen, um sie dem zu entziehen, der sie hätte nehmen können!«
Auf die Frage, ob er in seinem Leben einem edleren Menschen, als er selber wäre, begegnet sei, antwortete Hatem-Tai: »Gewißlich; eines Tages, als ich einherritt, kam ich am Zelte eines armen Arabers vorbei, der mir Gastfreundschaft anbot, ohne mich zu kennen; es war spät und ich noch fern von meiner Hütte. Gern nahm ich das Anerbieten des Beduinen an; ich hatte einige Tauben gesehen, die um seine Hütte flogen; als ich erwartete, Reis und einige Eier, die gewöhnliche Nahrung des Volkes, vorgesetzt zu bekommen, wurde mir auf einer Schüssel eine der Tauben dargeboten, von denen ich wußte, daß sie der ganze Reichtum dieses Armen waren; er wollte nicht einmal, daß ich ihm meine Erkenntlichkeit bezeigte, und ich konnte ihm nur dadurch danken, daß ich die Speisen lobte, die er mir aufgetragen hatte.
Ich beschloß, am andern Morgen aufzubrechen, und suchte bei mir nach einem Mittel, die Güte meines Wirtes wettzumachen, als ich ihn mit zehn anderen Tauben, denen er den Hals umgedreht hatte, auf mich zukommen sah, und er mich bat, sie als einziges Geschenk, das er zu geben imstande wäre, anzunehmen. Es war in der Tat alles, was er auf der Welt besaß. Ziemlich niedergeschlagen, wie ich war, daß er sich so all seiner Habe beraubt hatte, um mich würdiger zu bewirten, nahm ich dies Geschenk, das mir darum sehr teuer geworden war, mit mir. Kaum war ich in
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