Tausend und ein Tag - Orientalische Erzählungen
den andern in Verlegenheit brächte. Mit solchen Gedanken trat sie vor das Gitter des Gefängnisses und teilte dem Weisen ihr Erlebnis und ihre Pläne mit. Abumelek entgegnete ihr aber, daß sich Hudschadsch vielleicht noch der Drohungen entsänne, die er gegen ihn ausgestoßen hatte, ja daß ein solcher Vorschlag ihn gefährden könne; besser würde es sein, wenn sie sich selber erböte, die Geschichten, die man wünschte, zu erzählen. »Du hast Gedächtnis,« fügte er hinzu, »ich habe dir ihrer mehrere erzählt und will dir weiterhin noch, so viele du nur immer nötig hast, erzählen. Geh und vergiß nicht, daß du alles aufbieten mußt, um deinem Vater das Leben zu retten!« Die Rede machte Eindruck auf die junge Moradbak, die trotz ihrer Verdienste keine zu gute Meinung von sich hatte; und sie beschloß, sich am folgenden Morgen ihrem Vater in Vorschlag zu bringen. »O mein Vater,« redete sie ihn an, »ich bin glücklich genug, dich aus der Verlegenheit, in der du bist, zu retten und so dein Leben vor der Grausamkeit Hudschadschs zu schützen!« »Ach, o meine Tochter, wie dankbar bin ich dir,« sprach er, indem er sie tränenden Auges umarmte, »wo finde ich die treffliche Persönlichkeit, der ich so verbunden sein muß? Ich will mich ihr zu Füßen stürzen und ihr die lebhaftesten Beweise meiner Dankbarkeit geben!« »Du hast nicht weit zu gehen,« sprach Moradbak darauf, »um ihr für etwas zu danken, das sie Pflicht und Gefühle mit Freuden unternehmen lassen. Ich bin es«, fuhr sie fort. »Du bist es,« rief Fitead mit einer Überraschung aus, in die sich Schmerz mischte, »ich weiß dir Dank für deinen guten Willen, aber wenn du mir keine andere Hilfe bieten kannst, sehe ich wohl ein, daß ich mich entschließen muß, außer Landes zu gehen. Bereite dich vor, mir auf der Flucht zu folgen; ich weiß mir keinen andern Rat, vielleicht werden wir anderswo glücklicher sein!« »Wenn du zur Flucht aus unserm Vaterland gezwungen würdest,« entgegnete ihm Moradbak, »so wollte ich dir mit Freuden folgen; aber du hast dich einer solchen Strafe nicht zu fügen. Sei ruhig, ich stehe dir für alles ein. Der König kann nicht schlafen, ich rechne wahrhaftig nicht damit, ihm beschwerliche Fragen zu stellen, die den Verstand anstrengen, wie es die indischen Philosophen tun, wie zum Beispiel:
Ein Weib ist in einem Garten, wo sie Äpfel erntet. Der Garten hat vier Tore, deren jedes von einem Manne bewacht wird. Das Weib gibt nun dem Hüter des ersten Tores die Hälfte dieser Äpfel; als sie beim zweiten anlangt, gibt sie dem zweiten Wärter die Hälfte der übriggebliebenen Äpfel; dasselbe tut sie beim dritten; endlich teilt sie noch mit dem vierten, so daß ihr schließlich nur zehn Äpfel bleiben: nun fragt man, wieviel Äpfel sie geerntet hat.«
Der erstaunte Fitead wollte erraten, wie viele die Frau tatsächlich geerntet hat; doch Moradbak unterbrach seine Rechnerei und sagte ihm: »Sie hat einhundertsechzig gepflückt. Sei versichert,« fuhr sie fort, »daß ich mich in den rechten Grenzen zu bewegen weiß, die mein Unternehmen verlangt; fürchte nicht, daß ich mich wie die Frau aufführen werde, der Ebuali Sina das Glück geschenkt hatte, die aber die Bestimmungen nicht einhalten konnte, die ihr der Weise vorgeschrieben hatte. Aber höre doch die Geschichte an!« Fitead stimmte zu, und Moradbak fuhr also fort:
»Ebuali Sina, der weise Derwisch, den der Prophet über die Maßen liebte, brachte eine Nacht bei einer armen Frau zu, die alle Pflichten der Gastfreundschaft ihm gegenüber ausgeübt hatte. Er war ob des traurigen Zustandes, in dem sie sich befand, gerührt, wollte ihr in ihrem Unglück helfen und löste einen Stein aus der Mauer ihres Hauses, sprach einige Worte über ihm; dann brachte er ihn wieder an seinen alten Platz und bohrte eine kleine Rinne hinein, an deren Ende er einen Hahn anzubringen nicht versäumte. Nun sprach er zu der Frau, indem er sich bedankte und verabschiedete, solcherart: ›O meine liebe Mutter, wenn du Permetzwein haben möchtest, so öffne den Hahn und ziehe so viel ab, wie du wünschest. Nimm das davon, das du für deinen Bedarf gebrauchst, und trage das übrige zum Markte. Sei gewiß, daß der Quell niemals versiegen wird. Alles, was ich verlange, ist: lockere niemals den Stein, um zu sehen, was ich hinter ihn gelegt habe!‹ Die gute Frau aber versprach ihm das, und eine Zeitlang befolgte sie das Gebot des heiligen Mannes. Sie bediente sich des Quells, und Wohlstand
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