Tausend und ein Tag - Orientalische Erzählungen
sich nicht mehr lange des Lebens zu erfreuen habe, und ließ daher seinen einzigen und heißgeliebten Sohn Nurdschehan kommen und sprach also zu ihm:
›O Nurdschehan, ich trete dir meinen Thron ab und will Befehl geben, daß man mir den Todestrank mischen soll; daher mußt du bald meinen Platz einnehmen. Vergiß niemals, den Armen wie den Reichen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen; begnüge dich damit, ein blühendes Königreich zu besitzen, und trachte nie nach den Staaten eines andern Fürsten; lasse jedem, was ihm seine Ahnen gelassen haben; mit einem Worte: denke immer daran, daß du einst sterben mußt und daß Güte und Gerechtigkeit die schönsten Eigenschaften eines Königs sind!‹ Nachdem er solche Worte gesprochen hatte, stieg er, ohne sich durch Nurdschehans Tränen rühren zu lassen, vom Throne herab und ließ ihn seinen Sohn einnehmen; und zog sich in ein behagliches Gemach zurück, in dem er seine schönsten Tage verbracht hatte, nahm den verhängnisvollen Trank und erwartete mit größter Ruhe den Augenblick, der seine schöne und weiße Seele, die von keinen Gewissensbissen gequält wurde, zum Himmel führen mußte.
Als Nurdschehan seinem guten Vater alle Ehren erwiesen hatte, zu welchen Natur und Dankbarkeit ihn bestimmen konnten, beschäftigte er sich sorgfältig damit, nun die letzten Ratschläge zu befolgen, die er erhalten hatte. Sein Herz aber war gut und sein Gemüt gerecht. Doch wenn alle Menschen der Erfahrung bedürfen, um sich entfalten zu können, wie sehr haben sie die nötig, die zur Herrschaft auserwählt sind? Nurdschehan war von dieser wichtigen Wahrheit tief durchdrungen und neigte gar nicht zum Dünkel, der Fürsten nur zu sehr gemeinsam ist.
Eines Tages unterhielt er sich mit seinen Hofleuten über die Herrschaft der Könige und lobte die, so die Gerechtigkeit am meisten geliebt hatten. Sulaiman wurde als der gerechteste hingestellt. ›Dieses Beispiel läßt sich nicht anführen‹, antwortete Nurdschehan. ›Sulaiman war Prophet und konnte den Übeln, die er voraussah, Heilung verschaffen; ein gewöhnlicher Mensch jedoch kann sich nur seines guten Willens bedienen, um seine Schwächen wieder gutzumachen; und ich trage euch nicht nur auf, mich ohne Schmeichelei an meine Pflichten zu erinnern, sondern auch durch euren Rat meinen Fehlern vorzubeugen oder sie wieder auszuwetzen. Wenn ein König die Tugend liebt, werden bald alle seine Untertanen tugendhaft sein!‹ Kaum hatte Nurdschehan ausgesprochen, als sich Aburazi erhob und sprach: ›O großer Fürst, wenn du wünschest, daß der Gerechtigkeit in deinen Staaten vollkommen genuggetan wird, mußt du einen uneigennützigen Wesir auswählen, der nur deinen Ruhm und das Wohl des Staates im Auge hat. Und die Befriedigung, Gutes zu tun, muß ihm die Belohnung ersetzen!‹
›Du sprichst sehr wohl, o Aburazi,‹ entgegnete Nurdschehan, ›aber es ist schwer, solch einen Mann zu finden!‹
›Du hast, o Herr,‹ sagte der Höfling dawider, ›unter deinen Untertanen einen, der in seiner Mäßigung und Weisheit unter der Herrschaft deines erlauchten Vaters auf seine Ämter verzichtete; und deine Erhabenheit weiß vielleicht nicht, was sich ihm in der Stadt Schiras ereignete!‹ Als der König ihn beauftragt hatte, ihn davon zu unterrichten, fuhr Aburazi also fort:
›Imadil Deule‹ oder ›Stütze und Unterhalt der Glückseligkeit‹ hatte während des letzten Krieges, den wir gegen Persien unternahmen, unsere siegreichen Waffen bis nach Schiras geführt; und in einer Anwandlung von Menschlichkeit bewahrte er es vor der Plünderung; indessen forderten seine Krieger eine Belohnung von ihm, die sie für die Beute, die sie hätten machen können, entschädigte, und setzten ihm so zu, daß er genötigt wurde, sie ihnen zuzugestehen, obwohl er nicht wußte, woher er sie nehmen sollte. Als er nun eines Tages, mit solchen Gedanken beschäftigt, in seinem Palaste war, bemerkte er ein Loch, durch welches eine Schlange herein und hinaus kroch; er rief die Eunuchen seines Harems und sprach zu ihnen: ›Erweitert dieses Loch und greift eine Schlange, die ich eben dort hineinschlüpfen sah.‹ Die Eunuchen aber gehorchten ihm und fanden eine Höhlung, die längs der Wände mit Schränken ausgestattet war und mit Truhen, die eine über die andere aufgestapelt waren. Man öffnete sie und fand, daß sie mit Golddinaren angefüllt und die Schränke voll der köstlichsten Stoffe waren. Imadil Deule dankte Allah für diese Entdeckung und
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