Tausend und eine Nacht, Band 4
und sagte ihnen. »Was habt ihr getan? Ist das der Lohn dafür, daß ich euch in meinen Garten gelassen und euch von dessen Früchten gereicht habe? Konntet ihr so mein Vertrauen mißbrauchen?« Sie antworteten: »O Herr! Du weißt doch, daß wir nichts verderben konnten, der eine ist ja blind und der andere lahm.« Aber er erwiderte: »Wollt ihr eure Tat auch noch leugnen? Glaubt ihr, ich wisse nicht, wie ihr es gemacht? Hättet ihr eure Schuld gestanden, so würde ich euch eueres Weges gehen lassen; weil ihr sie aber noch leugnet, verdient ihr bestraft zu werden.« Er jagte sie hierauf aus dem Garten und warf sie in einen Kerker, wo sie umkamen. – »Die Bedeutung dieser Parabel«, fuhr der Prinz fort, »ist folgende: Der Blinde stellt den Körper vor und der Lahme die Seele; der Garten ist das Bild der Welt, der Eigentümer des Gartens ist Gott der Schöpfer; der Baum bedeutet die tierische Lust, und der Wächter den Verstand, der vor dem Bösen warnt und das Gute empfiehlt; darum müssen auch Körper und Seele Lohn und Strafe miteinander teilen.« Schimas fragte ferner: »Welcher Gelehrte ist der Vorzüglichste?« – »Der nach den Geboten des Herrn handelt, nur sein Wohlgefallen sucht und seinen Unwillen scheut.« – »Welche Gebote sollen wir uns am meisten zu Herzen nehmen?« – »Die, welche uns auffordern, gegen Nebenmenschen mild zu sein, unseren Stolz zu beugen und oft an Gott zu denken; wer dies tut, gleicht dem, der einen klaren Spiegel immer säubert, so daß er stets an Glanz zunimmt.« – »Welche Schätze sind die vorzüglichsten?« – »Die des Himmels, Lob und Preis Gottes; auch Wohltätigkeit gehört zu den Schätzen des Himmels.« – »Was entstellt Einsicht, Vernunft und Wissenschaft?« – »Die Begierden und Leidenschaften; sobald diese bei den Menschen Eingang finden, entarten sie alle seine Vorzüge, und er gleicht dem in der Luft schwebenden Raben.« – »Wieso das?«
»Ein Rabe«, erzählte der Prinz, »der verständigste und bescheidenste aller Vögel seiner Zeit, lebte lange in einer einsamen Wüste; da kam eines Tages ein Jäger in die Wüste, spannte sein Netz auf, warf ein Stückchen Fleisch hinein und ging fort. Der Rabe sah dies aus der Ferne, aber seine Begierde nach dem Fleisch war so groß, daß er das Netz darüber vergaß; er ließ sich herunter, fiel über das Fleisch her und verstrickte sich im Netz. Als der Jäger wiederkam und den Raben im Netz sah, sagte er ganz erstaunt: Ich habe das Netz nur für kleine Vögel ausgespannt, wie kommt's, daß du, verständiger Rabe, dich in eine solche Gefahr stürzest? – »Daraus sehen wir«, fuhr der Prinz fort, »daß die Lüsternheit über alle Tiere viel Gewalt übt. Der Mensch muß daher, wenn er mit den Augen seines Verstandes sich von Begierden ergriffen sieht, mit aller Kraft dagegen kämpfen und sich nicht von ihnen, wie ein Esel am Zaum, in den Abgrund führen lassen, sonst geht es ihm schlecht und er findet nie Ruhe.« Der Vezier fragte dann: »Was ist der Vezier dem Sultan schuldig?« – »Ihm seinen Rat zu erteilen«, antwortete der Prinz, »seine Geheimnisse zu bewahren, ihn über alles aufzuklären, nichts zu vernachlässigen, was ihm übertragen ist, dem Zorn des Königs auszuweichen, auf eine Weise ihn anzureden, daß er ihn wohl verstehe, nicht mehr von ihm zu fordern, als seine Stellung ihm gegenüber ziemt, ihn zart wie ein Kind zu behandeln und ihn nie in seinen Reden zu verletzen, sonst möchte es ihm gehen, wie dem Jäger mit dem Löwen.« – »Wie war das?« fragte Schimas. Der Prinz erzählte: »Einst lebte ein Jäger, der wilden Tieren nachjagte, ihr Fleisch verkaufte und ihre Haut und was er nicht verkaufen konnte, einem Löwen hinwarf, der sich in der Wüste an ihn gewöhnt und zuletzt so zahm wurde, daß er sich ihm nähern, seinen Rücken streicheln und seinen Schwanz in die Hand nehmen durfte. Als der Jäger die Unterwürfigkeit des Löwen sah, dachte er eines Tages: Ich will einmal auf ihm reiten, um mich dessen bei meinen Freunden rühmen zu können. Als er dies tat, geriet der Löwe in Zorn, hob die Tatze auf, schlug den Jäger damit, zerriß ihn mit seinen Klauen und trat ihn mit Füßen. So darf auch der Vezier«, schloß der Prinz, »durch die Milde des Sultans sich nicht verleiten lassen, ihn zu beleidigen.« Dann fragte Schimas: Was soll ein Vezier tun, wenn der König ungerecht und gewalttätig ist, wenn ihm schlechte Handlungen aufgetragen werden und er nicht imstande ist, den Sultan
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