Taylor Jackson 02 - Der Schneewittchenmörder
ein gefütterter Umschlag, wie man ihn in jedem Laden für Bürobedarf im ganzen Land fand, ungefähr in der Größe einer CD. In der Mitte war eine dickliche Erhöhung.
Wider besseres Wissen zog sie das Päckchen ins Zimmer. Nach einem letzten Blick in den Flur schloss sie die Tür, sperrte ab und legte die Kette vor.
„Was ist das?“
Sie zuckte überrascht zusammen. Baldwins schläfrige Stimme hatte sie erschreckt. Es waren die ersten Worte, die er seit dem Betreten des Hotelzimmers an sie gerichtet hatte. Dann erinnerte sie sich, was sie statt reden getan hatten, und errötete. Entschlossen schob sie die Gedanken beiseite.
„Ein Päckchen, persönlich ausgeliefert. Hol den Portier ans Telefon.“
Sie schaute sich den Umschlag näher an. Ihr Name und der Name des Hotels standen darauf. Offensichtlich wusste jemand, wo sie waren.
Baldwin kam zurück in den Flur. „Der Portier sagt, es ist vor ungefähr einer halben Stunde von einem Mann angeliefert worden. Sie haben es durch ihre Sicherheitschecks laufen lassen und geröntgt. Der Inhalt sieht aus wie ein Handy, sagen sie. Er schien nicht besorgt zu sein und meinte, die Quelle hätte eine reine Motivation gehabt, was auch immer das heißen soll. Ich würde mich wohler fühlen, wenn wir die örtliche Außenstelle dazurufen würden. Sie sollen das durch ihren Bombendetektor schicken.“
Aber Taylor hatte den Umschlag bereits geöffnet und schaute hinein. Tatsächlich ein Handy.
„Oh nein, Taylor, auf gar keinen Fall rührst du das an. Das geht definitiv ins Labor. Du hast ja keine Ahnung, was man heutzutage alles mit einem Telefon anstellen kann …“
Rrrrrinnnng.
Das Telefon summte in Taylors Hand. Sie schaute Baldwin an, dann wieder das Handy. Viermal klingeln, fünfmal, sechs, sieben. Acht. Sie atmete tief ein.
„Wenn sie mich umbringen wollten, hätten sie das im Lagerhaus getan.“
Sie klappte das Telefon auf und hielt es sich ans Ohr. Ein leichtes statisches Knistern, dann hörte sie eine Stimme. „Taylor?“
„Oh mein Gott, Daddy?“
Die Stimme erschütterte Taylor bis ins Mark. Es war lange her – drei Jahre seitdem sie ihn das letzte Mal persönlich gesehen hatte. Er war tot. Vermisst. Weg. Dieser gequälte, gebrochene Mann konnte unmöglich ihr Vater sein. Aber die Stimme ließ keinen anderen Schluss zu. Das war seine.
Und er hatte Angst.
„Taylor? Bist du da?“
„Daddy, wo bist du?“
„Taylor, ich will, dass du mir zuhörst. Du musst tun, was er sagt. Folge einfach seinen Anweisungen, und alles wird gut.“
„Aber Daddy …“
„Taylor, bist du da?“
„Ich bin da, Daddy.“
„Taylor, ich will, dass du mir zuhörst. Du musst tun, was er sagt. Folge einfach seinen Anweisungen, und alles wird gut.“
Sie warf Baldwin einen Blick zu. Die exakt gleichen Worte. Sie hörte auf zu sprechen. Die Stimme ertönte erneut.
„Taylor? Bist du da?“
Sie antwortete nicht.
„Taylor, ich will, dass du mir zuhörst. Du musst tun, was er sagt. Folge einfach seinen Anweisungen, und alles wird gut.“
Eine Aufnahme. Ihr wurde kalt ums Herz. Jesus, sie ließ sich immer noch von diesem Freak manipulieren. Sie reichte Baldwin das Telefon, damit er sich die Schleife anhörte.
Mit einem Kopfschütteln gab er es ihr zurück. Das war nicht ihr Vater. Nur eine Tonaufnahme – die jederzeit hätte erstellt werden können. Nichts an ihr verriet, dass er noch am Leben war.
Unbändige Wut baute sich in Taylors Brust auf. Sie drehte das Handy so um, dass es sie anschaute, und dann schrie sie so lang und laut sie konnte in das Mundstück. Gerade wollte sie auflegen, als sie ein Lachen am anderen Ende hörte. Sie hielt sich das Telefon ans Ohr.
Die Stimme erkannte sie. Der gleiche höhnische Tonfall wie im Lagerhaus. Er lachte sie aus.
39. KAPITEL
Nashville, Tennessee
Montag, 22. Dezember
23:58 Uhr
„Vater?“
In seiner großzügigen Bibliothek saß der Schneewittchenmörder schlafend im Stuhl. Charlotte schaute ihn an, den gebeugten Körper, die missgebildeten Hände, und fühlte nichts. Kein Mitleid, kein Bedauern über die Schmerzen, die er offensichtlich litt. Irgendwie passte es, dass der Mann, der die Quelle von so viel Leid und Kummer war, der das Leben aus zehn jungen Frauen herausgefoltert hatte, in den Fängen einer Krankheit steckte, die seine Werkzeuge der Zerstörung verkrüppelte.
Da war es wieder, dieses Gefühl. Nur ganz flüchtig. Sie hatte sich immer gefragt, wie es wohl wäre, die Seele aus einem Körper zu befreien.
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