Taylor Jackson 02 - Der Schneewittchenmörder
vollständig außer Kontrolle. Deshalb ist sie hier in Nashville, so weit weg wie möglich vom Einfluss Hollywoods. Sie lässt sich auch nichts sagen, sondern muss ihre Erfahrungen selber machen. Das war schon immer so, sie wurde schon immer von den Dingen angezogen, die sie verletzen konnten. Wenn du sie vor einen Herd stellst und ihr sagst, dass die Oberfläche heiß ist und sie sich daran verbrennen wird, würde sie dir die Zunge herausstrecken und den Herd mit der Hand berühren, nur um sicherzugehen, dass du sie nicht anlügst.“
Der Gebrauch des Präsens berührte Taylor. Giselles Tod war noch nicht richtig bei ihrer Mutter angekommen. Sie hörte, wie am anderen Ende der Leitung ein Streichholz angezündet wurde. Kurz darauf atmete Remy lang aus. Offenbar hatte sie sich gerade eine Zigarette angesteckt.
„Das ist die andere Sache. Sie mochte zwar jung gewesen sein, aber sie war auf keinen Fall leichtgläubig. Sie hatte ein Gefühl für Menschen, auch wenn ihr das nicht viel gebracht hat. In einem abgerissenen Junkie konnte sie das Beste und in Miss Amerika das Schlechteste sehen. So war sie einfach.“
„Wenn du immer noch in der Rechtsmedizin bist, machst du besser die Zigarette aus. Sam köpft dich sonst.“
Taylor hörte ein schabendes Geräusch. Remy hustete einmal. „Taylor, erinnerst du dich noch, als wir Kinder waren und Zigaretten aus der Packung von Mrs. Mize geklaut haben und die dann im Wald hinter dem Haus deiner Eltern geraucht haben? Wie alt waren wir da, zehn, elf?“
Taylor musste gegen ihren Willen lachen. Mrs. Mize war die Haushälterin ihrer Eltern gewesen, Mutter-Ersatz, Kindermädchen, Putzfrau und alles in allem eine fadengerade Person. Sie hatte mehr Zeit in Taylors Erziehung investiert als Taylors Eltern.
„Elf. Sie hat mich grün und blau geschlagen, als sie es bemerkt hat. Du hast das Mundwasser aus ihrem Badezimmer gemopst, damit wir uns den Mund ausspülen konnten, hast aber vergessen, es wieder zurückzustellen. Sie wusste, dass sie gerade erst eine neue Flasche gekauft hatte. Das machte sie neugierig, also hat sie ihre Zigaretten abgezählt. Meine Güte, war die sauer.“
„Sie hat es meinen Eltern erzählt, die total ausgeflippt sind.“
Taylor dachte einen Moment lang darüber nach. Ihre eigenen Eltern waren über den Vorfall ebenfalls informiert worden. Taylor hatte natürlich Stubenarrest bekommen, und man hatte ihr gesagt, sie dürfe nicht mehr mit dem St.-Claire-Mädchen spielen, aber es war Mrs. Mize gewesen, die ihr ordentlich den Hintern versohlt und sie danach ganz fest umarmt hatte, weil sie es hasste, diejenige zu sein, die anstelle von Kitty und Win die Strafe vollstrecken musste. An dem Abend hatte sie Taylor ins Bett gesteckt, ihr eine heiße Schokolade gebracht und eine alte norwegische Sage erzählt.
„Was treibt Mrs. Mize heutzutage so?“
„Sie ist letztes Jahr gestorben. Im Schlaf dahingegangen, die Süße. Eine wahre Märtyrerin, so viele Jahre, wie sie es mit meiner Familie ausgehalten hat, das sag ich dir.“ Taylor lachte leise bei der Erinnerung an etwas Gutes und Glückliches aus ihrer Kindheit. Dann schüttelte sie den Kopf und konzentrierte sich wieder auf die Frau am anderen Ende der Leitung.
„Remy, ich würde gerne weiter mit dir in Erinnerungen schwelgen, aber ich muss zurück an die Arbeit. Gibt es noch irgendetwas, das du mir über Giselle erzählen kannst? Mit wem sie befreundet ist, ob es außerhalb der Familie jemanden gibt, der sie gut kannte?“
Ein langes Schweigen setzte ein, und Taylor erkannte, dass Remy diese intimen Details aus dem Leben ihrer Tochter nicht wusste. Alles andere wäre so wahrscheinlich wie zu glauben, dass Kitty irgendeine Ahnung hatte, warum Taylor heimlich mit dem St.-Claire-Mädchen geklaute Zigaretten geraucht hatte. Taylors Herz brach, nur ein kleines Stückchen entfernt von der Stelle, von der sie nicht geahnt hatte, dass da noch mehr Platz für zerrissene Tränen war.
„Okay, Remy. Danke für deinen Anruf. Es tut mir so leid, was passiert ist. Wirklich. Sam hat alles, was du noch brauchen könntest. Wir lassen dich wissen, was wir herausfinden.“
„Ich vertraue darauf, dass du herausfindest, wer mein Baby umgebracht hat, Taylor. Ich bin froh, dass du diejenige bist, die den Mörder fassen wird. Ich weiß, dass dieser Hurensohn gegen dich keine Chance hat.“
Sie legte auf und hinterließ bei Taylor ein seltsames, stolzes Gefühl, gepaart mit Trauer und Sehnsucht nach dem, was und wer sie
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