Tea-Bag
du hast keine Angst, wo es doch das erste war, was mir an dir aufgefallen ist? Als du hier bei mir und all diesen verdammten Käselaibern eintratst. Ich bin selbst auf der Flucht gewesen. Ich weiß, was es heißt, nicht willkommen zu sein, immer gehetzt, immer auf verbotenem Terrain, umgeben von Menschen, deren Blicke wie schußbereite Waffen sind. Steh nicht da und sag, du hättest keine Angst. Ich bin zu alt, als daß ich mir Lügen anhören müßte.
- Ich habe Angst.
- Du hast Angst. Geh jetzt. Ich werde versuchen, von dir zu träumen, um zu sehen, ob dir gelingt, was du dir vorgenommen hast. Anzukommen. Und wieder sichtbar zu werden, ohne daß man dich jagt. Vergiß nur nicht, daß du in einer Welt lebst, in der unwillkommene Flüchtlingsströme aus armen Erdteilen über die ganze Erde ziehen. Und die, welche sich auf der anderen Seite der Grenze befinden, die du überqueren willst, werden alles tun, um zu verhindern, daß du ankommst. Geh jetzt.
- Warum ziehst du das eine Bein nach?
- Weil meine Kraft nur dafür ausreicht, das andere Bein zu versorgen. Geh jetzt.
Er schob mich zur Tür, strich mir noch einmal ungeschickt mit seinen Fingerkuppen über die Wange und beförderte mich dann mit einem leichten Stoß hinaus auf die Straße. Ich versuchte, mir diesen Stoß für den Rest meiner langen Reise zu bewahren, um fortwährend die Stärke zu spüren, die er mir zum Geschenk hatte machen wollen, außer den Käsestücken und den zerknitterten Scheinen. Während meiner Flucht sprach ich von nun an jeden Tag in Gedanken mit ihm. Ich konnte ihn um Rat fragen, und jedesmal, wenn er mir eine Antwort gab, war es, als würden seine Haare noch weißer.
Wenn ich müde war, verschmolzen die Bilder von Luningi und meinem Vater mitunter zu einem neuen und ganz überraschenden Gesicht, das ich noch nie gesehen hatte, aber trotzdem zu kennen meinte. Oft, im Traum oder kurz vor dem Einschlafen, war es, als würden die beiden Männer, Luningi und mein Vater, in einer geheimnisvollen Sprache miteinander reden, die ich noch nie zuvor gehört hatte. Dann und wann drehten sie sich zu mir um und lächelten. Ich war es, von der sie redeten, sie diskutierten, was sie mir raten sollten, welche Gebete zu sprechen seien und zu welchen Göttern, um mich vor allen Gefahren zu schützen. Aber oft überkam mich Wut über ihre Unzulänglichkeit. Weder Luningi noch mein Vater waren
als Beschützer sonderlich erfolgreich. Andauernd geriet ich in Schwierigkeiten, und die einzige Person, die mir helfen konnte, war ich selbst.
Viele Wochen nachdem ich Luningi und seine Käselaiber verlassen hatte, hatte ich in einer schrecklichen Sturmnacht die Grenze nach Deutschland überquert. Lange, trostlose Regenfälle hatten eingesetzt, die mich ständig durchnäßten, Erkältungen und Fieber verursachten und mich zwangen, unter Brücken und in leerstehenden Abrißhäusern Schutz zu suchen. Einmal war ich zu einem Rastplatz an einer der großen Autobahnen gelangt, die Tag und Nacht Autos ausspieen wie aus einem funkensprühenden Ofen, und stocherte in einer Mülltonne nach etwas Eßbarem. Ein Lastwagenfahrer, der an einer Hauswand stand und pinkelte, entdeckte mich. Er war schmutzig und roch genau wie die Mülltonne, und der Bauch hing ihm wie ein Sack über den Gürtel. Er fragte, ob ich mitfahren wollte, und obwohl ich wußte, was mir passieren konnte, sagte ich ja. Aber nicht, ehe ich ihm die Erklärung abgenommen hatte, daß er wirklich nach Norden unterwegs war.
Ich weiß nicht, wie es kommt, aber ich erinnere mich noch an den Namen der Stadt, in die er wollte, Kassel. Ich fand, es klang wie der Name eines Insekts, eins von den kleinen Tieren, die immer auf mir herumkrochen, als ich ein Kind war und vor der Hütte spielte. Ein Kassel, ein kleines Tier mit Tausenden von vorsichtigen Beinen, das nie stach, sich nur mit sanften Bewegungen über meine Haut tastete, auf die gleiche Weise wie ich mich jetzt über den Teil der Erdoberfläche tastete, der Europa hieß.
Ich kletterte auf den hohen Sitz, und er steuerte auf die Straße hinaus. Ich dachte, ich sollte vielleicht Angst haben. Aber die Wärme im Fahrerhaus sorgte dafür, daß ich einschlief. Als ich aufwachte, stand der Laster still, und er hatte sich auf mich gelegt, ein gewaltiges Gewicht, das drohte,
mein Herz zu zerquetschen. Mit den Fingernägeln kratzte ich ihn am Hals und schaffte es, aus dem Laster zu fliehen. Das Letzte, was ich von ihm hörte, war, wie sein Keuchen in Gebrüll
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