Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tea-Bag

Tea-Bag

Titel: Tea-Bag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
Vom Netzwerk:
überging. Dann sprang der Motor an, die starken Scheinwerfer leuchteten auf, und ich sah ihn verschwinden.
    Aber trotz dem, was geschehen war, oder zumindest beinah geschehen war, suchte ich weiter nach pinkelnden Lastwagenfahrern an den großen Straßen, die ständig voller Autos zu sein schienen, die einander jagten, um am schnellsten voranzukommen. Mein Lächeln verlockte die Männer, mich mitzunehmen. Immer mußte ich meine Fingernägel einsetzen, um mich zu befreien, außer einmal, als ein Fahrer mich an einem Rastplatz absetzte und sagte, er würde nach Westen abbiegen, nicht weiter nach Norden fahren. Er lud mich zum Frühstück ein, er stellte mir keine Fragen, er erzählte nichts von sich selber, er gab mir einfach die Hand, nachdem er die Kaffeetasse geleert hatte, und dann war er mit seinem Laster weg.
    Schließlich gelang es mir, zu einem Meer und einem Strand zu kommen. Es ging ein kalter Wind, er zerrte an meinem Gesicht, aber ich wollte nicht aufgeben. Ich wollte weiter. Ich schlich mich an Bord einer Fähre und versteckte mich unter ein paar Bänken in einem leeren Speisesaal. Es schaukelte und schüttelte im Schiffsrumpf, mehrere Male übergab ich mich, aber ich wußte jetzt, nachdem ich auf einer Karte an der Wand nachgesehen hatte, daß ich bald am Ziel sein würde. Die weißen Steine in meinem Kopf bildeten jetzt eine endlos lange Linie. Aber die Zeit lag hinter mir, jeden Morgen war es, als würde ich mich häuten. Das, was gewesen war, ließ ich hinter mir und zwang mich, nach vorn zu sehen.
    In der Morgendämmerung schlich ich aus dem Speisesaal, machte eine Toilette ausfindig und wusch mir das Gesicht. Im Spiegel sah ich einen Menschen, den ich nur teilweise erkannte. Ich war abgemagert und hatte einen eigentümlichen

Ausschlag im Gesicht. Aber was mich vor allem von der unterschied, die ich früher gewesen war, waren all die eingekerbten Falten auf meiner Stirn. Darin sah ich alle Straßen und Flüsse und Mülltonnen, die Meilensteine auf meiner langen Reise gewesen waren. Die Karte hatte sich unmerklich und lautlos in meine Haut eingeritzt. Es würde mir nie erlaubt sein zu vergessen.
    Als ich die Toilette verließ und in der kalten Dämmerung hinaus aufs Deck trat, entdeckte ich plötzlich einen Menschen, den ich kannte. Er saß zusammengekauert in einem Rettungsboot und zitterte vor Kälte. Es war einer von den Jungen, die die Leiter gebaut hatten, auf der ich über den spanischen Zaun geklettert bin, einer von den Jungen, die eine halbe Stunde, bevor ich mich davonmachen durfte, in der Dunkelheit verschwunden waren. Er zuckte zusammen und sah mich an. Ich lächelte, aber er erkannte mich nicht. Die Angst leuchtete aus seinen Augen. Ich hockte mich vor ihn hin. Der Wind war schneidend kalt.
    - Erkennst du mich nicht?
    Er schüttelte den Kopf.
    - Ich war diejenige, die über den Zaun kletterte, nachdem ihr abgehauen wart.
    - Was für ein Zaun?
    Seine Stimme war heiser und abwesend, das Gesicht bedeckte ein schmutziger Stoppelbart. Als ich seine Hand nehmen wollte, schlug er meine Hand weg.
    - Wo sind die anderen?
    - Welche anderen?
    - Mit denen du abgehauen bist?
    - Ich bin allein. Ich war die ganze Zeit allein.
    - Wohin bist du unterwegs?
    - Nach Hause.
    - Wo ist zu Hause?

Er murmelte etwas, das ich nicht verstand. Wieder versuchte ich seine Hand zu nehmen, ihn zu beruhigen, doch er stieß mich zurück, stand dann auf und verschwand stolpernd eine Leiter hinunter. Ich folgte ihm, zögerte aber und blieb stehen. Er wollte allein sein. Ich sah ihn geduckt und schwankend wie einen Betrunkenen ein glattes, schaukelndes Deck überqueren und hinter einem hohen Schornstein verschwinden.
    Es war jetzt heller Tag, ein graues Meer mit zischenden Wellen und weit in der Ferne der dunkle Umriß von Land. Plötzlich wußte ich nicht, was ich tun sollte. Ich schlug die flatternde Persenning eines Rettungsboots zurück und kroch hinein. Ich hatte gesehen, daß dem Jungen der Irrsinn in die Augen geschrieben stand. Die Angst hatte ihn aufgefressen. Die unsichtbaren Parasiten hatten sich durch seine Haut gebohrt. Ich kauerte mich in dem feuchten Boot zusammen und versuchte, meine Wärme zu bewahren. Ich weinte. Ich rief nach meinem Vater, doch er antwortete nicht. Meine Mutter schwebte wie ein unruhiger Geist in weiter Ferne. Ich rief sie, aber auch sie konnte meine Stimme nicht hören. Ich hatte den Boden meiner Einsamkeit erreicht, tiefer konnte ich nicht fallen. Meine Kräfte waren erschöpft. Der

Weitere Kostenlose Bücher