Tea-Bag
ihn traurig, als sei er überraschend verlassen worden.
Er dachte an das, was sie ihm erzählt hatte, die unabgeschlossene Geschichte. Wie viel von dem, was sie gesagt hatte, war eigentlich wahr? Er konnte es nicht wissen. Aber er dichtete weiter, füllte die Lücken aus, nahm sie bei der Hand und führte sie in seine eigene Erzählung hinein. Er war noch nie in Afrika gewesen. Jetzt hatte er das Gefühl, er könnte endlich dorthin gelangen, weil er eine Person gefunden hatte, die ihn begleitete.
Er ging in die Küche hinaus und holte einen Teebeutel, den er vor sich auf den Tisch legte. Und er dachte, daß die Blätter,
die sich unter der weißen Hülle befanden, Buchstaben seien, Wörter, Sätze, vielleicht sogar Lieder, welche die eigentliche Geschichte des Mädchens mit dem großen Lächeln erzählten … - Warum sitzt du da mit einem Teebeutel in der Hand und schläfst?
Andrea stand über den Schreibtischstuhl gebeugt, auf dem er eingeschlafen war. Er schreckte auf, versuchte sich zu erheben, fiel aber auf den Stuhl zurück, da sein eines Bein eingeschlafen war.
- Ich frage, wieso du einen Teebeutel in der Hand hältst.
- Ich wollte Tee machen, bin aber eingeschlafen.
Genervt schüttelte Andrea den Kopf und überließ ihn seinem Schicksal. Er massierte sein Bein, bis er die Wohnungstür zuschlagen hörte. Durch das Fenster konnte er in der Morgendämmerung sehen, daß es aufgehört hatte zu schneien. Er schlüpfte ins Bett, legte sich auf die Seite, die noch die Wärme von Andreas Körper bewahrt hatte, und fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Viertel vor zwei stand er in der Halle des Hauptbahnhofs und sah sich unter den Menschen um. Niemand lächelte, alle schienen trostlos davon in Anspruch genommen zu sein, zu unerwünschten Zielen unterwegs zu sein. Er wollte schon aufgeben, als er spürte, daß jemand seinen Arm streifte.
Tea-Bag lächelte.
Sie schafften es gerade noch, den Zug zu besteigen, ehe er mit einem Ruck den Bahnhof verließ.
9
B is Hallsberg ging alles gut. Dort verschwand Tea-Bag, ohne
eine Spur zu hinterlassen. Aber bis zu dem Augenblick, in dem sie flüchtete, hatte sie es geschafft, die Geschichte zu erzählen, die sie so unvermittelt in Jesper Humlins Wohnung abgebrochen hatte. Er fand, die Geschichte sei in vielen Stücken so unwahrscheinlich, daß sie tatsächlich vollständig wahr sein konnte. Sie hatte in ihrem gebrochenen, aber nichtsdestoweniger klaren Schwedisch berichtet, wie sie sich vom Internierungslager in Südspanien nach Schweden durchgeschlagen hatte. Jesper Humlin hatte überlegt, ob es ein einsameres Wesen geben konnte als einen jungen Menschen auf der Flucht in einem Europa, das ein endloses Niemandsland war, ohne Warnschilder und mit wenigen Zäunen oder Mauern, aber dennoch ein absolut verbotenes Gebiet für jeden, der nicht die formelle Erlaubnis erhalten hatte, die Grenze zu überschreiten.
Bis Södertälje hatte sie regungslos in ihrem Stuhl gesessen und nicht einmal - was ihn irritierte, da er fand, sie zeige nicht genug Dankbarkeit - reagiert, als er beim Schaffner eine Fahrkarte für sie kaufte. Sie hatte das Kinn in die Steppjacke gebohrt und zum Fenster hinausgestarrt. Mit ein paar belanglosen Fragen hatte Jesper Humlin versucht, ihr Schweigen zu durchlöchern. Sie hatte nicht geantwortet, und er hatte sich gefragt, was er da eigentlich machte. Sie passierten die Tunnel bei Södertälje, und als sie wieder ans Licht kamen, war es, als hätte sie aus der flüchtigen Dunkelheit eine Inspiration geschöpft. Plötzlich legte sie die Steppjacke ab, und er konnte nicht umhin festzustellen, daß sie einen sehr schönen
- Der Affe, sagte sie. Soll ich von ihm erzählen?
- Gern. Aber erst möchte ich die andere Geschichte zu Ende hören. Das Ruderboot, das zu schaukeln anfing. Das Bugsierschiff, das vorbeifuhr. Die Hemden auf der Wäscheleine. Und du hast gewinkt, obwohl du keinen Menschen sehen konntest.
- Ich will lieber von dem Affen sprechen.
- Man muß seine Geschichten zu Ende erzählen. Geschichten, die unfertig bleiben, sind wie unselige Geister. Sie suchen dich heim.
Sie betrachtete ihn aufmerksam.
- Ich schwöre, daß ich recht habe. Unvollendete Geschichten können dein Feind werden.
Langsam, nachdenklich nahm sie die Erzählung wieder auf, mitunter widerwillig, als versuche sie, die Geschichte in Stücke zu zerschlagen, weil sie ihr einen allzu großen Schmerz bereitete.
»Ich trieb weiter in diesem Boot. Die Zeit war nicht mehr
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