Tea-Bag
Zunge hatte sich an vielen Tagen geschwollen und starr angefühlt, als würde sie darüber trauern, daß sie nie zur Anwendung kam.
- Wer ist es, der auf dich wartet?
- Das Land. Die Menschen, die da wohnen, wissen, wer ich bin.
Luningi nickte bedächtig.
- Wenn du ein Ziel hast, sollst du daran festhalten. Menschen, die ihr Ziel verlieren, haben sich oft unachtsam verhalten. Man hat ein einziges Ziel im Leben. Auch ich hatte einst ein Ziel. Nach Europa zu fahren und zehn Jahre zu arbeiten. Nichts anderes, nur arbeiten. So billig wie möglich leben, mein Geld sparen und dann wieder nach Hause zurückkehren, um das zu tun, wovon ich immer geträumt habe. - Was denn?
- Ein Leichenschauhaus eröffnen.
Ich hatte das Wort noch nie gehört. >Leichenschauhaus<. War das ein Geschäft, in dem man Käse verkaufte? Oder geblümte Stoffe, aus denen Kleider genäht wurden? Vielleicht war es ein Restaurant, wo man Essen bekam, das so stark gewürzt war, daß einem schon nach dem ersten Bissen der Schweiß herunterlief? Ich wußte es nicht.
- Du weißt vielleicht nicht, was ein Leichenschauhaus ist? Oder du willst es vielleicht nicht wissen, weil du Angst vor dem Tod hast?
- Jeder hat Angst vor dem Tod.
- Ich nicht. Ein Leichenschauhaus ist ein Ort, wo Tote ruhen, ehe sie beerdigt werden. Ein Raum voller Eis, wo die Sonne nicht bis zu den Toten vordringt, wo ihre Körper sich nach dem Todeskampf in der Kühle ausruhen können, bevor sie in der Erde bestattet werden.
- Warum willst du ein Leichenschauhaus besitzen?
- Als ich jung war, reiste ich in unserem Land herum, in deinem und meinem Land, zusammen mit meinem Vater, der Menschen dabei half, nach Wasser zu suchen. Er war kein Wünschelrutenmann, er lief nicht mit einer Astgabel vor sich herum. Das Wasser fand er mit seinen inneren Augen. Aber da sah ich - in den großen Städten, wo die Menschen so zahlreich waren, daß sie fast aneinanderklebten, und in Dörfern, wo die Verlassenheit so stark war, daß sie die Menschen stumm machte -, wie wir mehr und mehr die Fähigkeit verlieren, einen würdigen, langsamen, nachdenklichen Tod zu sterben. Ein Afrikaner, der die Fähigkeit verliert, in Würde zu sterben, ist ein verlorener Mensch. Er verliert auch die Fähigkeit zu leben. Genau wie viele Menschen hier in diesem Land. Ich will ein Leichenschauhaus bauen, wo die Würde gewahrt wird. Bei mir sollen sich die Toten in der Kühle ausruhen können, ehe sie sich ein letztes Mal vor der Erde verneigen und verschwinden. - Ich glaube, ich verstehe.
- Nein. Du verstehst nicht. Eines Tages vielleicht. Wenn du nicht von dem Land verschlungen wirst, das dich erwartet. Länder sind manchmal wie hungrige Raubtiere mit tausend Mäulern. Sie verschlingen uns, wenn der Hunger zu groß ist, und spucken uns aus, wenn wir nicht mehr gebraucht werden. Ich sitze in diesem Laden und verkaufe täglich ein paar Laibe Käse; es ist mir nie gelungen, Geld zusammenzusparen. Ich fürchte nur eins, nämlich daß ich, wenn ich meine Zeit nahen fühle, nicht genug Kraft oder Geld haben werde, um nach Hause zurückzukehren und an dem Ort zu sterben, wo ich einmal geboren wurde. Man kann ohne Wurzeln leben. Aber man kann nicht sterben, ohne zu wissen, wo man seine allerletzten und wertvollsten Wurzeln in die Erde pflanzt.
Luningi ging zur Tür und blinzelte auf die Straße hinaus. In einem Kirchturm schlug die Uhr einmal.
- Jetzt gehst du besser. Monsieur le Patron wird bald zurücksein.
Luningi steckte ein paar Stücke Käse in eine Plastiktüte und gab sie mir. Ich bemerkte, daß sein Rücken von einer Last gebeugt war, die ich nicht sehen konnte. Außerdem zog er das linke Bein nach.
- Käse sättigt.
Dann griff er in seine Hosentasche und holte ein paar zerknitterte Scheine hervor. Ich wollte sie nicht annehmen.
- Sie sind für dein Leichenschauhaus.
- Das sollen andere bauen. Für mich ist es zu spät.
- Du brauchst das Geld für deine Heimreise.
- Nicht so sehr, wie du sie für deine Reise nach Norden brauchst.
Still standen wir da drinnen in der Dunkelheit. Luningi streckte seine Hand aus und berührte meine Wange.
- Du bist sehr schön, meine Tochter. Wenn ich die Hand wegnehme, kann ich dich nicht länger beschützen. Viele Männer werden dich begehren, dir vielleicht schaden, weil du so schön bist. Der einzige Mensch, der dich verteidigen kann, bist du selbst.
- Ich habe keine Angst.
Luningi zog seine Hand zurück und schaute mich plötzlich unwirsch an.
- Warum behauptest du,
Weitere Kostenlose Bücher