Tee macht tot
Sie wollte hierbleiben, hier in St. Benedikta, das so pittoresk lag. „Dein Rollstuhl wird wohl noch einmal benötigt werden“, erklärte Esther Friedrichsen plötzlich mit einem Blick auf Reinhold und Agatha. Tief atmete sie ein. Sie hatte eine Entscheidung getroffen.
Ingrid schob sich nun endgültig in den Raum und kam vor dem auf dem am Boden liegenden Reinhold zu stehen. „Was hat sie vor?“ Aus irgendeinem Grund ahnte Ingrid, dass ihr Esthers Idee nicht gefallen würde. Vielleicht weil sie schon einmal so unsanft ihres fahrbaren Untersatzes beraubt wurde? Nervös fuhren ihre Hände durch Krambambulis struppiges Fell. Der machte sich nicht die Mühe, beide Augen zu öffnen. Mit einem Auge analysierte er die Erregung seines Frauchens. Aber nachdem sie immer noch so da saß, wie sie es immer tat, und er immer noch so da lag, wie er es immer tat, konnte er ihre Aufregung nicht verstehen. Ein kurzes Schmatzen seinerseits, und er schlief weiter.
„Wir setzten Reinhold in deinen Rollstuhl“, flüsterte Esther verschwörerisch, „ich bringe ihn ins Bett und komme wieder, um dir bei Agatha behilflich zu sein.“
„Das gefällt ihr nicht. Nein, das gefällt ihr ganz und gar nicht.“ Ingrids Hände krallten sich förmlich um die Lehnen ihres Rollstuhls.
„Was sollen wir sonst tun? Reinhold hier liegen lassen? Das wäre aber nicht sehr fein“, appellierte Esther. „Du musst keine Angst haben. Agatha ist tot. Toter geht es wohl kaum.“
Bebend starrte Ingrid in Esthers Gesicht. „Sie kann sie nicht hier allein lassen? Sie hat doch gesehen, zu was Agatha selbst tot noch fähig ist.“ Verweigernd schüttelte sie ihren Hut. „Nein, nein und nochmals nein!“
Esther setzte sich wieder. „Wenn du laufen könntest, würde ich ja hierbleiben, aber wir haben keine Wahl.“ Esther war der Verzweiflung nahe. Sie riss sich ein Stück von der Kleenexrolle, die auf dem Tisch lag ab, und wischte sich über ihren Nacken und die Stirn. Es wurde ihr langsam zu viel mit der Improvisation ihres Tages. Mit dem Fingernagel kratzte sie einen Farbklecks vom Tisch und puhlte die Reste aus ihrem Nagel wieder heraus. Wenn sie ihre restlichen Tage nicht mit Gittern vor ihrer Nase verbringen wollte, musste sie ein weiteres Mal nachdenken. Sie stützte ihren Ellenbogen auf den Tisch und legte ihren Kopf in die Hände. Esther musste ihrem Gehirn förmlich die Beweglichkeit, die ein noch jüngerer Denkapparat hatte, aufzwingen.
Doch auch dieses Mal schaffte es ihr altes Gehirn, eine Lösung zu finden.
42
Es war schweißtreibend, umständlich und obendrein gefährlich, was sie hier taten. Die beharrliche Weigerung von Ingrid, nicht mit Agatha allein bleiben zu wollen, ließ ihnen jedoch keinerlei andere Möglichkeit.
Damit die fiese Agatha beim Betreten des Raumes nicht sofort gesehen wurde, zog Esther die Tote an ihren Beinen über den Boden. Es würde zwar nicht passieren, sollte aber doch jemand den Kunstraum um diese Uhrzeit noch betreten, würde man Agatha hinter dem Tisch liegend nicht sofort entdecken.
Jetzt war Reinhold an der Reihe.
„Entschuldige, Reinhold, aber das muss jetzt sein!“, bat Esther vorher um seine stumme Zustimmung. Umständlich hob sie seinen Oberkörper an, um ihn zum Sitzen zu bewegen. Einige Versuche scheiterten, da Reinhold wie ein Sack ständig wieder umfiel. Ingrid schnappte sich seine Arme und zog daran, um ihn in Position zu halten. Beinahe wäre sie vornüber aus dem Rollstuhl gekippt. Geschwind und außer Atem schob Esther ihm einen Stuhl in seinen Rücken. So konnte er sich zumindest so lange selbst halten, bis Esther zu Luft gekommen war. Dass Reinhold so schwer war, hatten die beiden Damen nicht vermutet. Natürlich half er bei ihren Anstrengungen kein bisschen mit.
„So weit so gut!“, war Esther mit der Arbeit zufrieden. „Jetzt müssen wir ihn nur noch hochbekommen.“
Esther schob ihre Arme unter seine Achseln. Ingrid stellte sich samt Rollstuhl in Position. Gemeinsam hievten, zerrten und schoben sie den großen Mann auf Ingrids Schoß, setzten den kleinen Krambambuli nun auf dessen Schoß und starteten ihre Reise nach oben.
Esther, die derlei Anstrengungen nicht gewohnt war, ächzte, als sie den Rollstuhl vor sich herschob. Ingrid hielt ihre Arme um Reinholds Taille geschlungen, damit er nicht herunterfiel.
Doch Reinhold, schlaff wie ein Mehlsack, spielte nicht mit. Bedrohlich kippte er nach vorne, als sie die Aufzugschwelle überfuhren. Gleich würde er
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