Tee macht tot
war.
Schweigsam schob Esther den Stuhl in Richtung Aufzug. Die Peinlichkeit wollte keiner ansprechen.
„Sie hat ihren Hut vergessen.“ Ingrid tastete auf ihren Kopf.
„Den brauchst du doch jetzt nicht“, meinte Esther mit einem Blick auf die Uhr.
„Sie geht nie ohne Krambambuli und nie ohne ihren Hut.“ Ingrid stoppte die Räder. Sie war nicht gewillt, ohne ihren Hut weiterzufahren.
„Na schön!“, stöhnte Esther Friedrichsen, „ich gehe ihn holen.“
Schlurfend machte sie sich auf den Weg. Es war bereits 21 Uhr, und bis sie ihre Arbeit vollendet hätten, würde es sicher weit nach 22 Uhr sein.
Krambambuli quiekte zufrieden vor sich hin, während er schlief. Kein Wunder, seine Blase war ja entleert; jetzt träumte er sicherlich von seiner Jugend und wie er einem großen Knochen den Garaus machte.
„Reinhold wird sicherlich schon ungeduldig warten“, flüsterte Esther, als sie wieder kam.
Ingrid nahm ihr den Hut ab und setzte ihn, während Esther sie schob, akkurat auf den Kopf. Es ging nur langsam voran. Esther hatte das Gefühl, dass sich ihr schmerzendes Knie verdoppelt hatte. Aber es blieb einfach keine Zeit, um sich einen Tee zur Linderung aufzubrühen und das Bein hochzulegen. Tapfer kniff sie die Zähne zusammen. Samt Hund und Hut rollte sie Ingrid hinein in den Aufzug.
Schweigend fuhren sie hinab, bis Ingrid unvermittelt in die Stille hinein wissen wollte: „Was ist passiert?“
Esther sah sie verdutzt an. „Wie meinst du?“ Wollte Ingrid über den Vorfall mit der Perücke sprechen?
„Warum hat sie ihren Donnerstagstee an einem Dienstag ausgeschenkt? Sie hat doch noch nie ihren Leichenblumentee an einem anderen Tag ausgeschenkt. Sie geht deshalb davon aus, dass etwas Gravierendes vorgefallen ist.“
Esther trat etwas mühsam von einem Bein auf das andere, zum einen, weil sie ihr Knie entlasten wollte, zum anderen, weil es ihr ebenso unangenehm war, darüber zu reden.
Ingrid spürte die Zurückhaltung ihrer Freundin. „Sie muss sich deswegen nicht schlecht fühlen, auch nicht wegen ihrer Haare.“ Versöhnlich sah Ingrid Esther an. „Und wenn sie sich daran erinnern möge, sie hätte Agatha den Tee schon längst gegeben.“ Das musste ihrer Meinung nach reichen, um Esther das schlechte Gefühl zu nehmen.
Dankbar sog Esther die tröstenden Worte auf und erzählte, wie es dazu kam, dass sie Agatha kurzerhand den Tee gab. Agatha hätte einfach ihre Finger von dem Kräuterschrank lassen sollen. Außerdem hätte ihr ständiges Gesitze im Gang ihren regelmäßigen Alltag gründlich durcheinandergebracht.
Ingrid kicherte. „Nun, jetzt kann die fiese Agatha sitzen, solange sie will.“
Die LED-Anzeige zeigte bereits K für Keller an. Gleich würden die Türen sich öffnen.
****
Im Kunstraum rutschte Agatha immer weiter von ihrem Stuhl herab. Noch ein Stückchen weiter und noch ein Stückchen. Mit einem bizarren Geräusch baumelten ihre Arme plötzlich auf seltsame Art neben ihr herab.
Reinhold fasste sich an seinen Hals und versuchte, den Hemdkragen zu lockern. Die Angst schnitt ihm die Luft an. Noch einmal sprach er eine eindeutige Warnung aus. Doch auch von dieser schien Agatha nicht sonderlich beeindruckt zu sein. Sie rutschte einfach weiter. Ihr Kopf fiel ihr auf die Brust, worüber Reinhold etwas erleichtert war. Wenigstens starrte sie ihn nicht mehr so dämonisch an. Nun war mit einem Male nichts mehr da, wohin sie hätte noch rutschen können.
Mit einem dumpfen Bums landete Agatha auf dem Boden und warf mit ohrenbetäubendem Lärm das Möbelstück, auf dem sie gerade noch gesessen hatte, gleich mit um.
Zu Tode erschreckt, machte Reinhold einen Satz auf Agatha zu und ließ die Salzteigfigur der auf dem Boden liegenden Agatha auf den Kopf knallen.
Ein Kranz aus Scherben verteilte sich um ihr Haupt. Endlich kehrte Ruhe ein. Die vermeintlich doch nicht tote Agatha lag nun endgültig tot vor Reinholds Füßen.
41
Der Krach ließ das Quietschen der Rollstuhlreifen für einen Moment verstummen. „Das klang nicht gut“, meinte Ingrid erschrocken. Die sonst so unsentimentale Frau bekam es tatsächlich mit der Angst zu tun. Ihr Gesicht wurde mit einem Male ganz fahl. Panisch hetzte ihr Blick zu Esther, dann zur Tür und wieder zurück. Sie hat keine Angst, versuchte sie, sich selbst zu beruhigen. Vor niemandem! Nicht vor Menschen, zumindest nicht, wenn sie lebten! Doch nun kroch ihr die Angst den Rücken hoch, breitete sich über den Nacken
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