Tee macht tot
aus und ließ sie verkrampft ihre Hände um die Räder schließen. Mit einer gekonnten Bewegung drehte Ingrid ihren Rollstuhl, bereit, abzuhauen. „Agatha ist auferstanden“, wisperte sie.
„Nein!“, flüsterte Esther Friedrichsen zurück. „Tote bleiben für gewöhnlich tot … glaube ich. Außerdem ist Reinhold doch auch noch da.“
Ein weiteres Poltern ließ die beiden abermals zusammenfahren. Ihre alten Herzen machten einen gehörigen Satz.
„Oh Gott, der arme Reinhold!“, jammerte Ingrid. „Was passiert mit ihm?“
Mühevoll schluckte Esther ihre eigene Furcht hinunter. Es reichte schon, dass Ingrid die Fassung verlor. „Sei leise!“, legte sie einen Finger über ihren Mund. „Ich sehe nach.“ Eilig schlappte sie die letzten Schritte in Richtung Hobbyraum und öffnete entschlossen die Tür. Wie angewurzelt blieb sie stehen.
„Was ist los?“ Vorsichtig beugte sich Ingrid hinter Esthers runden Hüften vorbei, um ebenfalls einen Blick in den Raum werfen zu können. „Reinhold ist tot!“, rief sie mit geweiteten Augen.
Esther hielt ihr schnell die Hand auf den Mund. „Schrei nicht so!“ Ingrids nächster Ausruf ging unverständlich in Esther Hand unter.
Mit gerunzelter Stirn warfen die beiden einen Blick auf den Toten. Da lag der gute Reinhold neben der fiesen Agatha auf dem Boden; beide starrten gegen die Decke, als ob sich dort gerade der Himmel für sie öffnete.
„Das war Agatha“, japste Ingrid van Brekelkam, während sie Esthers Hand von ihrem Mund zog.
„Quatsch“, schüttelte Esther ihren Kopf und trat in den Raum, um die Toten näher zu begutachten. „Sie war doch tot.“
„Vielleicht war sie aber auch gar nicht tot. Vielleicht hat sie nur so getan?“ Ingrid blieb in der Tür stehen. So nah an Agatha getraute sie sich noch nicht ran.
„Aber doch nicht mit dem Donnerstagstee!“ Esther war über Ingrids Annahme mehr als erstaunt. Schließlich wirkte ihr Tee immer auf die richtige Weise. „Warum sollte sie tot spielen?, fragte Esther dennoch.
„Um Reinhold zu töten?“
„Na, ich weiß nicht.“ Esther zog die Nase kraus und setzte sich. „Aber jetzt ist sie ja wirklich tot.“ Die Scherben um Agathas Kopf legten den Schluss nahe, dass Reinhold, warum auch immer, ihr etwas über Kopf geschlagen hatte.
Ingrid zuckte die Achseln. „Jetzt ist sie sogar zweimal tot, wenn sie beim ersten Mal schon tot war … und Reinhold gleich mit. Drei Mal tot auf zwei Menschen verteilt.“ Kurze Zeit schwiegen beide und saßen einfach nur da.
„Findet sie nicht auch, dass im Moment sehr viele sterben? Das wird den Rohrasch auf maximale lebenserhaltende Ideen bringen.“
„Das kann man wohl sagen.“ Esther stand auf und legte ihre Hand aus Reinholds Brust, um sich von seinem Tod zu vergewissern. Vielleicht war er doch nicht ganz tot? Vielleicht, täuschten sie sich und Reinhold war nur in Ohnmacht gefallen. Ingrid brachte sie mit ihren Mutmaßungen über nicht ganz so tote Menschen aus dem Konzept. Aber auch die direkte Berührung bestätigte den außerplanmäßigen Tod. Das Herz schlug nicht mehr. Esther beugte sich hinab und hielt ihr Ohr an seinen Mund. Nein, auch ein warmer Atem war nicht zu spüren. Er war und blieb tot.
Leicht strich sie über den Ring, den der gute Reinhold seiner innig geliebten Frau Frieda hatte machen lassen. Wie er so da lag, mit seinen offenen Augen, fast hatte Esther den Eindruck, dass er bereits nach seiner Frieda Ausschau hielt.
Schwerfällig erhob sie sich wieder. Dabei nahm sie sich den Stuhl, von dem die fiese Agatha gestürzt war, zur Hilfe, und richtete ihn bei dieser Gelegenheit wieder auf.
„Ob er wohl seine Frieda gleich findet? Es wäre nicht schön, zu wissen, dass Agatha ihm zuvorkommt“, ahnte Ingrid die Gedanken ihrer Freundin, doch die antwortete nicht, war sie mit ihren Gedanken doch schon zu einem weiteren Problem vorgedrungen. Esther überlegte, was wohl Pfarrer Johann zu der Sache zu sagen hätte. Diesmal würde er sie sicherlich für schuldig befinden und obendrein dem Rohrasch einen Tipp geben. Also käme es doch noch zu 25 Jahren Gefängnis. Die letzte Reise, die sie vor über drei Jahren angetreten hatte, war aller Wahrscheinlichkeit nach nicht die Letzte gewesen. Sie würde noch einmal umziehen, doch diesmal bräuchte sie wohl kein Taxi rufen. Dass ihre letzten Jahre so enden würden, hätte sie sich damals, als sie ihre Wohnung verließ, nicht träumen lassen. Nein! Das durfte sie auf gar keinen Fall zulassen. Nein!
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