Teller, Janne
verweigern konnte, deutete er
auf den großen Hans und sagte leise: »Das gelbe Fahrrad .«
Das war
keine große Sache, auch wenn das Fahrrad nagelneu und neongelb und ein Rennrad
war und es dem großen Hans so zu schaffen machte, dass er zwei ganze Tage
wartete, bis er es zu dem Berg aus Bedeutung im stillgelegten Sägewerk stellte.
Keine große Sache war besser als nichts, und jetzt konnten wir zumindest mit
dem Rest weiterkommen. Wenn wir gewusst hätten, dass das mit dem Fahrrad den
großen Hans so wütend machen würde, dass er auf eine ganz entsetzliche Idee
verfiel, kann es gut sein, dass einige von uns Hussein gebeten hätten, etwas
anders zu finden. Aber wir wussten es nicht und bestanden bloß darauf, der
große Hans solle das neongelbe Fahrrad abliefern, wie Hussein gesagt hatte.
Sofie
gehörte zu denen, die am meisten darauf beharrten. Das hätte sie nicht tun
sollen.
13
Ich kann
fast nicht erzählen, was Sofie abliefern sollte. Es war etwas, worauf nur ein
Junge kommen konnte, und es war so eklig und widerwärtig, dass fast alle ein
gutes Wort für sie einlegten. Sie selbst sagte nicht viel, nur Nein und Nein
und Nein, und sie schüttelte den Kopf und zitterte am ganzen Körper. Der große
Hans kannte keine Gnade.
Und wir
mussten natürlich zugeben, dass wir anderen unerbittlich gewesen waren, als er
das neongelbe Fahrrad abliefern sollte.
Das wäre nicht das Gleiche, sagten wir. »Wie könnt ihr wissen, dass mir
mein neongelbes Fahrrad nicht genauso viel bedeutet wie Sofie ihre Unschuld ?« Das konnten wir nicht.
Und auch
wenn wir äußerst gemischte Gefühle hatten, wurde schließlich vereinbart, dass
ihr der große Hans beim Abliefern helfen solle, am nächsten Abend im
stillgelegten Sägewerk. Vier der Jungen sollten dableiben und, falls nötig,
helfen. Wir anderen wurden nach Hause geschickt, damit uns ja nicht in den Sinn
käme, ihr zu Hilfe zu eilen.
Das wurde
ein sehr schrecklicher Tag in der Schule.
Sofie saß
leichenblass auf ihrem Stuhl und sagte kein Wort, nicht einmal, als einige der
Mädchen sie trösten wollten. Aus Angst vor dem, was mit Sofie geschehen sollte,
trauten wir anderen uns schließlich auch nicht, etwas zu sagen, und das war
fast schlimmer, als wenn wir Ärger gemacht hätten, denn solche Stille während
einer Schulstunde hatte Eskildsen in unserer Klasse
noch nie erlebt. Er wäre fast misstrauisch geworden und fing davon an, wie
seltsam sich unsere Klasse seit Beginn des Schuljahrs doch verhielte. Er hatte recht , aber er brachte das zum Glück nicht mit Pierre Anthons leerem Platz in Verbindung. Ich bin mir nicht
sicher, ob wir die Fassade hätten aufrechthalten können, wenn er von Pierre Anthon angefangen hätte.
Während Eskildsen über unser seltsames Verhalten seit August redete
und redete, drehte ich mich um und sah Sofie an. Ich glaube nicht, dass ich ihr
einen Vorwurf gemacht hätte, wenn sie in diesem Moment gepetzt hätte. Sie tat
es nicht. Sie saß vollkommen still da, im Gesicht so weiß, wie der Sarg des
kleinen Emil gewesen sein mochte, als er neu war, und dennoch ruhig und
beinahe gefasst. So wie in meiner Vorstellung eine Heilige in den Tod ging.
Ich musste
an den Anfang denken und wie Pierre Anthon uns immer
noch von oben aus dem Pflaumenbaum hinterherrief ,
vormittags und nachmittags, jedes Mal, wenn wir am Taeringvej 25 vorbeikamen. Nicht nur uns machte das langsam kirre. Es klang so, als würde
auch er verrückt, wenn wir ihn nicht bald herunterbekämen.
»Das
Gehirn und die DNA von Schimpansen sind fast identisch mit unseren«, hatte er
gestern gerufen und sich in die Äste des Pflaumenbaums geschwungen. »Menschsein
ist überhaupt nichts Besonderes !« Und an diesem
Morgen hatte er gesagt: »Es gibt sechs Milliarden Menschen auf der Erde. Das
sind zu viele, aber im Jahr 2025 werden es achteinhalb Milliarden sein. Das
Beste, was wir für die Zukunft der Erde tun können, ist sterben !«
Dieses
ganze Wissen musste er aus Zeitungen haben. Ich weiß nicht, wofür das gut sein
soll, all die Erkenntnisse vor sich herzutragen, die andere gehabt haben. Das
raubt jedem den Mut, der noch nicht erwachsen ist und selbst etwas herausfinden
will. Aber Erwachsene häufen schrecklich gern Wissen an, je mehr, desto besser,
und dabei spielt es keine Rolle, ob die Erkenntnisse von anderen Menschen
stammen, also etwas sind, was sich sowieso jeder anlesen kann. Ja, Sofie hatte
recht damit, die Zähne zusammenzubeißen. Es gab trotz allem etwas,
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