Tempel der Träume - Der Roman (German Edition)
trinke ich“, sagte Holger als erster und nahm einen Schluck. Er kannte Samira am wenigsten, nur durch ein paar gelegentliche Treffen, wenn er versuchte, in Kiaras Nähe zu sein. Dass Samira ihn angerufen hatte, grenzte sowieso schon fast an ein Wunder. Doch er wollte sich nicht beschweren.
Die anderen folgten schließlich seinem Beispiel und tranken ebenfalls. Nur Luca, Samiras Freund, blieb nachdenklich stehen.
„Ich werde dich auf jeden Fall vermissen“, sagte er.
„Ich weiß, Schatz“, erwiderte Samira. „Ich dich auch.“ Sie lächelte ihn an und prostete ihm zu, was ihn nicht wirklich tröstete. Bedrückt ging er zurück zum Tresen.
„Er wird es verkraften“, sagte Samira zu Kiara. „Er kann mich ja auch besuchen kommen. Du übrigens auch.“
„Wenn du Zeit für mich hast.“
„Natürlich. Für dich immer. Ohne dich hätte ich den Wettbewerb doch gar nicht erst gewonnen!“
Und sie erzählte zum wiederholten Mal die Geschichte von dem zerschnittenen Oberteil und dem versteckten Bikini. Die anderen lachten mit ihr, freuten sich für sie, neckten sie, indem sie Horrorszenarien über ihren Amerika-Aufenthalt, über zickige Modelkolleginnen, verrückte Designer und irre Fotografen erzählten. Sie hatten ihren Spaß an dem Abend.
Nur Kiara saß etwas stiller daneben.
***
Kiara war in den nächsten Stunden, Tagen und Nächten ebenfalls nicht sie selbst. Das Erlebnis mit der Muschel im „Pour Elles“ hatte längst verschüttet geglaubte Erinnerungen wieder ans Licht befördert. Immer wieder huschten die Bilder von dieser Nacht vor ihr inneres Auge. Sie hatte sich noch nie so genau an die Erlebnisse erinnern können wie jetzt. Sie konnte sich auf einmal sogar den Geruch des Vergewaltigers ins Gedächtnis rufen. Er hatte nach Sandelholz und Zedern gerochen.
Jedes Mal, wenn sie daran dachte, kroch eine kalte Gänsehaut über ihren Körper. In den Nächten schlief sie kaum, weil die Erinnerungen sie überwältigten. Vor allem in der ersten Nacht hatte sie kein Auge zumachen können.
Nach der Feier in der „Sonderbar“ war sie nach Hause gefahren, hatte sich ausgezogen und war in ihr Bett gekrochen, doch sie hielt es dort nicht aus.
Sie war in Leas Zimmer geschlichen und hatte sich in das Bett des Mädchens gelegt, wobei sie sich fest an die Kleine schmiegte. Sie fühlte sich ungewohnt verletzlich in diesem Moment, so wütend auf den Täter, dass er ihr das angetan hatte, aber im gleichen Moment auch schuldig, weil sie ihre Tochter über alles liebte und den Zorn nicht auf die Unschuldige übertragen wollte. Die Kleine konnte nichts dafür, dass sie die Frucht eines Verbrechens und ihr Vater ein Unmensch war.
Sie küsste Lea im Schlaf, die wie ein Engel dalag und von den Qualen ihrer Mutter keine Ahnung hatte. Die Kleine glaubte, ihr Vater sei ins Ausland gezogen und habe jeglichen Kontakt abgebrochen. Außer Kiara, ihrer Mutter und Großmutter wusste niemand, was wirklich vorgefallen war. Den Schulkameradinnen und Freundinnen hatte sie erzählt, sie wäre freiwillig mit dem Mann mitgegangen. Sie wollte sich die Schande ersparen, als naives, dummes Opfer dazustehen, das sich nicht einmal wehren konnte. Aber sie hatte wirklich nichts tun können. Das Betäubungsmittel im Drink hatte ihren Widerstand und ihren Körper lahmgelegt. Ihre Mutter hatte sie gedrängt, Anzeige zu erstatten, damit der Kerl dies nicht noch mehr Mädchen antun konnte, aber es war zwecklos. Sie konnte sich an nichts erinnern. Und ihre Freundinnen wollte sie nicht zu dem Mann befragen, damit die nicht misstrauisch wurden. Also beließ sie es dabei und sah von einer Anzeige ab. Zudem musste sie entscheiden, wie sie mit dem ungeborenen Kind verfahren wollte. Sie wollte es zunächst nicht zur Welt bringen. Sie sah nur mit Ekel auf die Frucht dieser Nacht. Aber es einfach im Mutterleib abzutöten, schien ihr grausam und barbarisch. Als ihre Mutter anbot, es wie ihr eigenes aufzuziehen, so dass sie die Schule beenden und einen Beruf erlernen konnte, entschied sie sich schließlich dafür, es auszutragen. Ihre Lehrer verachteten sie dafür, dass sie so jung schon Mutter war, viele Klassenkameradinnen zogen sie unbarmherzig damit auf. Es waren keine leichten Jahre, aber sie stand sie durch. Und mit jedem Jahr, mit jedem Monat, eigentlich mit jedem Tag, begann sie Lea mehr zu lieben.
Ein paar Tränen liefen über Kiaras Gesicht, sie wischte sie weg, bevor sie das Kopfkissen der Tochter benetzten. Dann gab sie der
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