Tempel der Träume - Der Roman (German Edition)
die Holger ihr zuwarf, bemerkte sie jedoch nicht. Sie war viel zu sehr in Gedanken versunken.
Lea lag längst im Bett, als Kiara an diesem Abend nach Hause kam. Ihre Mutter saß in der Küche und redigierte einen Artikel, der vor ihr lag. Es war schon spät, der Mond schien hell am Berliner Nachthimmel und ließ den weißen Beton der Plattenbauten unirdisch leuchten. Er malte auch einen hellen Streifen in die Wohnküche von Franziska Jonas, den sie jedoch im grellen Licht der Küchenlampe nicht bemerkte.
Sie sah auf und seufzte, als Kiara den Raum betrat.
„Stell dir vor, der Kerl lässt mich jetzt sogar die Texte der Praktikantin Korrekturlesen, aber selbst schreiben darf ich nicht. Was für eine Schande!“ Sie spuckte das letzte Wort fast heraus, so angewidert wirkte sie.
„Du solltest den Job wechseln. Der tut dir schon lange nicht mehr gut.“
„Ich weiß, aber er liegt zeitlich so gut, dass ich mich um Lea kümmern kann. Was bei dir ja leider nicht klappt.“
Sie wollte nicht anklagend klingen, schaffte es aber nicht ganz.
„Ich weiß, und es tut mir leid. Aber ich kann nichts dafür“, sagte Kiara müde und setzte sich auf den Stuhl. „Ich habe es leider nicht ändern können.“
„Aber Lea war trotzdem enttäuscht.“
Kiara stand wieder auf und nahm einen Apfel aus einer Obstschale, doch bevor sie hineinbiss, überlegte sie es sich anders und legte ihn wieder hin. Sie kämpfte mit sich. Schließlich richtete sie ihr Wort an die Mutter: „Mama, kann ich dich was fragen?“
„Natürlich.“
„Was meinst du: Sollte man Vergangenes ruhen lassen, wenn es im Prinzip nicht mehr so richtig schmerzt?“
„Was meinst du?“
„Es ist nichts Konkretes, es ist nur so allgemein gefragt.“
Jede andere hätte Kiaras Antwort geschluckt, doch ihre Mutter war eine Jonas, und daher clever und streitlustig. „Erzähl mir nicht, es ist nur so allgemein, wenn es nicht nur so allgemein ist. Du würdest mich nicht fragen, wenn es nicht wichtig wäre.“
Kiara ging unruhig auf und ab. Wenn sie ihrer Mutter erzählte, was sie erlebt hatte, würde die Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um den Schuldigen in dem Club zu finden. Dabei hatte Kiara nichts in der Hand, keinen Beweis, dass der Täter noch dort war, in dem Gebäude arbeitete oder Kunde war. Nur eine Muschel als Stempel, die vielleicht auch andere Clubs benutzten. Außerdem war das Ereignis über zehn Jahre her.
Bei dem ganzen Gewese würde Lea jedoch erfahren, was der wirkliche Grund für ihre Existenz war. Und das wollte Kiara auf keinen Fall.
Aber lügen wollte sie auch nicht. Deshalb winkte sie ab.
„Mir war so, als hätte ich etwas gesehen, was mich an die ganze Sache von damals erinnert hat. Aber ich bin mir nicht sicher. Ich lasse es lieber ruhen, denke ich.“
Ihre Mutter zog die Stirn kraus. „Du meinst DIE Sache? DIE Sache vor elf Jahren? Was hast du gesehen?“ Sie klang eindringlich.
„Nur einen Stempel, der ähnlich war. Da kamen die Erinnerungen zurück.“
„Du kannst dich daran erinnern?“, fragte ihre Mutter perplex. „Wie sieht er aus? Dann kannst du endlich Anzeige erstatten. Es wird Zeit, dass er für das Verbrechen büßt. Und für Lea zahlt.“
„An sein Gesicht kann ich mich nicht erinnern. Nur an seinen Geruch, und an ein Bildchen, das er am Handgelenk hatte. Es war wohl ein Stempel, ich weiß es nicht genau.“
„Ein Geruch? Und ein Bildchen von einem Stempel am Handgelenk?“ Die Begeisterung ihrer Mutter starb schon wieder. „Das reicht nicht für eine Anzeige nach so langer Zeit.“
„Nein, ich weiß. Es tut mir leid.“
Franziska Jonas stand auf und ging auf Kiara zu. Dann nahm sie sie in die Arme. „Es muss dir nicht leid tun. Aber bist du dir sicher, dass es nicht mehr schmerzt?“
Kiara überlegte einen Moment. „Ich habe mich daran gewöhnt, mich deswegen schlecht zu fühlen, aber Schmerz ist es nicht.“
„Du musst dich aber auch nicht schlecht fühlen deswegen, es war nicht deine Schuld.“
„Ich weiß, Mama.“
„Vielleicht ist es wirklich besser, wenn wir die Vergangenheit ruhen lassen. Es würde nur alles wieder aufwühlen und du würdest dich noch schlechter fühlen.“
Die ältere Frau löste sich von der Tochter und sah sie liebevoll an. „Ich hätte nie gedacht, dass wir es zusammen schaffen würden, Lea großzukriegen und die Sache zu überstehen.“
„Ich auch nicht. Es war nicht immer einfach.“
„Das war es nicht. Und dabei hatte ich immer gehofft, dass du mal den
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