Tempel der Träume - Der Roman (German Edition)
schwer, würde sie gnadenlos nach unten ziehen und sie durch das Übergewicht umkippen.
„Ich trink nie wieder Alkohol“, schwor sie sich leise und hielt die Hand vor ihre Augen, als sich die Tür öffnete und Licht von draußen zu ihr drang. „Jedenfalls nicht so viel“, ergänzte sie lautlos, damit der an ihr Vorübergehende es nicht hörte. Dann bog sie zur Schwimmhalle ab, wo die Kundin ihr Handtuch liegen gelassen hatte, das sie jetzt für ihre Massagen benötigte. Wieso war sie zuständig dafür, anderen ihren Krempel nachzuräumen? Stand das in ihrer Arbeitsbeschreibung? Vermutlich ja.
Myrtel seufzte leise.
„Frau Ragewitz?“, rief eine Stimme von oben, aber Myrtel zog es vor, es nicht zu hören. Sonst hätte sie den Kopf wenden müssen, was mit Schmerzen verbunden war. Und das musste nicht sein. Die Neue konnte warten.
Kiara sah, wie ihre Chefin um die Ecke bog, um in der Schwimmhalle zu verschwinden. Dabei musste sie Myrtel Ragewitz unbedingt etwas fragen. Sie hatte gerade entdeckt, dass sie heute für eine Patientin verantwortlich war, die sich auf eine Schwangerschaft vorbereitete und deshalb an Gewicht verloren hatte. Mit Hilfe der Therapeutin wollte die Frau die entstandenen Dellen im Bindegewebe loswerden und hatte dazu schon mehrere Methoden ausprobiert. Heute war Body Wrapping mit Zupfmassage und Lymphdrainage angesagt, die Kiara in ihrer Krankenschwesterausbildung jedoch nur nebenbei gelernt hatte. Daher brauchte sie die Anleitung von einer, die sich damit gut auskannte.
„Frau Ragewitz!“, rief sie erneut, doch die Ältere reagierte noch immer nicht. Verunsichert eilte Kiara hinter ihr her. Sie musste ihre Vorgesetzte unbedingt darüber ausfragen, wie sie die Behandlung durchzuführen hatte, damit sie keinen Fehler machte.
Myrtel schlurfte durch den Vorraum zum Schwimmbad, wo ein junger Mann in einer knackigen Badehose auf jemanden zu warten schien. Er bedachte Myrtel mit einem desinteressierten Blick, dann musterte er den Springbrunnen, aus dem das Wasser unentwegt plätscherte. Das Nass war so klar und sauber, dass man es ohne Bedenken trinken konnte, darauf legte Aaron Logan, der Geschäftsführer des „Pour Elles“, größten Wert. Eine Qualitätskontrolle bescheinigte, dass es sogar bessere Werte als die besten handelsüblichen Quellwasser besaß. Was der ganze Spaß kostete, darüber schwieg man sich aus.
Myrtel lief durch die Tür in die Umkleidekabine, wo die Frau ihr Handtuch vermutete, aber dort befand sich nichts, außer zwei Paar Schuhen, die vermutlich ein Drittel von Myrtels Einkommen gekostet hatten.
Myrtel rieb sich müde die Augen, dann schlurfte sie weiter in das Schwimmbad. Sie sah sich um. Es befanden sich nur zwei ältere Frauen im Wasser – die Besitzerinnen der Schuhe –, die sich am Rand festhielten, miteinander schnatterten und nebenbei ein paar Fitnessübungen mit den Beinen absolvierten. Eine der Frauen kam ihr bekannt vor. Es war eine Opernsängerin, die in ihren besten Jahren weltweit für volle Opernhäuser und durch ihre Affäre mit einem französischen Politiker für Schlagzeilen gesorgt hatte. Jetzt planschte sie gemütlich im Wasser und genoss ihren Ruhestand in bester Gesundheit.
Myrtels Blick wanderte zu der Lagune, in der ein paar Liegestühle standen. Und da sah sie es. Das Handtuch hing auf einer Palme, die direkt am Wasser stand, neben einer (unechten) Kokosnuss.
Myrtel schlurfte zur Palme.
Auf einmal knackste der Lautsprecher. „Bitte nur in Badeschuhen das Schwimmbad betreten“, ertönte eine tiefe männliche Stimme durch den Lautsprecher.
Myrtel wusste, dass die Stimme zum Bademeister gehörte. Er hieß Gernot, oder Gunter, oder Gerfried, sie konnte sich seinen Namen schlecht merken. Er war auch eher ein unscheinbarer Geselle, mit schütterem Haar trotz seiner noch jungen dreißig Jahre, einem blassen Gesicht und schmächtiger Statur.
Myrtel winkte ab, ohne sich zu ihm umzudrehen, und schnappte sich das Handtuch von der Palme.
In diesem Moment hörte sie das Klappen der Tür, und erneut wurde ihr Namen gerufen.
„Frau Ragewitz, es ist wirklich dringend“, rief Kiara ihr zu.
Konnte die Neue nicht mal eine Minute warten?
Genervt drehte sich Myrtel zu ihr um. Und da geschah es. Durch den Alkohol, der sich noch in ihrem Blut befand, wurde ihr leicht schwindelig. Instinktiv griff sie nach der Palme, um sich festzuhalten, doch der Wedel gab nach. Myrtel verlor das Gleichgewicht und machte erschrocken einen Schritt in die falsche
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