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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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hinzu. Sie sehe es an meinen Augen, sagte sie – eine neue Kraft und Selbstsicherheit, die sie »wahnsinnig attraktiv« fand. Als unser Kellner die Rechnung brachte, saß Sidney auf meinem Schoß. »Sag mal«, flüsterte sie mir ins Ohr, »soll ich mit zu dir kommen? Zeigst du mir deine Briefmarkensammlung?«
    Sidney stand mitten in meinem Zimmer und zog sich die Bluse aus, als ihr Blick auf meinen Schreibtisch fiel. »Was ist das alles?«, fragte sie und zeigte auf einen Papierstapel.
    »Geschichten.«
    »Worüber?«
    »Über einen dummen Trottel und eine wunderschöne Frau, die ihm das Herz bricht.«
    »Fiktion oder Realität?«
    »Bin mir nicht sicher.«
    Sie nahm einen Stift vom Schreibtisch und malte ein Riesenherz auf eine der Seiten, und innen schrieb sie in ihrer makellos gedrechselten Handschrift: »Ende.« Dann schaltete sie meine Lampe aus. Im Dunkeln hörte ich die Knöpfe ihrer Bluse auf den Boden fallen.
    Diesmal, sagte ich mir, würde alles anders laufen. Mein Erfolg bei Sidney wie auch in Yale hing davon ab, beides auszubalancieren und mich keinem von beiden zu unterwerfen. Ich musste meine Zeit und vor allem meine Gefühle besser einteilen. In der Vergangenheit war ich meinem Herzen gefolgt und hatte meine Verzweiflung wie ein Ehrenabzeichen zur Schau getragen. Ich hatte mich für ehrlich gehalten, dabei war ich nur ein Dummkopf gewesen. Diesmal, das schwor ich mir, würde ich souverän bleiben.
    Sidney merkte den Unterschied und verhielt sich deshalb auch anders. Während ich kein Wort mehr über die Zukunft verlor, hörte Sidney nicht mehr davon auf. Oft saßen wir abends in einer Bar, lange nach der letzten Runde, wenn die Stühle schon umgedreht waren und die Barmänner heim wollten, und sie machte Namenslisten für unsere künftigen Kinder. An Freitagnachmittagen bestand sie darauf, dass ich mich in den Zug gen Süden setzte, um das Wochenende mit ihr und ihren Eltern zu verbringen. (Sie wollte dort wohnen bleiben, bis sie wusste, was sie mit ihrem Leben anfangen sollte.) Auch ihre Eltern verhielten sich anders. Sie quittierten meine Bemerkungen nicht mehr mit Stirnrunzeln. Sie lächelten ermutigend, wenn Sidney und ich über unser gemeinsames Leben diskutierten. Nach dem Essen gingen wir alle ins Wohnzimmer und tranken Cocktails, lasen die Times oder sahen fern, so als wären wir bereits eine Familie. Wenn ihre Eltern sich ins Bett legten, beheizten Sidney und ich das Feuer, dann las sie Proust, und ich lernte. Manchmal sah ich aus dem Fenster und stellte mir einen kleinen Jungen auf der anderen Straßenseite vor. Ein- oder zweimal spürte ich diesen Teil von mir immer noch dort draußen, wie er im Wald stand und hereinspähte.
    An meinem zwanzigsten Geburtstag fuhren Sidney und ich nach Boston, ein guter Ort, wie sie fand, um dort nach meinem Examen zu leben. Die Stadt war nicht weit entfernt von ihrer Familie, sie würde also kein Heimweh haben, aber weit genug, dass wir unseren eigenen Weg gehen und unabhängig sein konnten. »Wäre das nicht ein toller Ort, um unser neues Leben anzufangen?«, sagte sie und raste durch die schmalen Straßen in North End. »Wir nehmen uns eine hübsche kleine Wohnung. Und abends machen wir ein gemütliches großes Feuer und trinken Kaffee und lesen uns aus Prousts Suche nach der verlorenen Zeit vor.«
    »Außerdem gibt es ein paar gute juristische Fakultäten in der Nähe«, sagte ich.
    »Ich dachte, du willst Journalist werden?«
    »Anwälte verdienen mehr als Journalisten.«
    »Wir brauchen kein Geld«, sagte sie. »Uns reicht die Liebe.«
    Doch wir brauchten durchaus Geld. Seit dem Wäschereidebakel im zweiten Studienjahr hatte ich eine Reihe Teilzeitjobs ausgeübt und gerade so viel verdient, dass es für Alkohol und Bücher reichte, aber im letzten Jahr fand ich eine Vollzeitarbeit in einem Buchladencafe neben dem Yale Center for British Art. Der Laden wäre Bill und Buds Vorstellung vom Paradies gewesen. Die von oben bis unten verglaste Vorderfront sorgte dafür, dass die Verkaufsetage stets von natürlichem Licht durchflutet war, und an einer hufeisenförmigen Theke, die mitten in der Unterhaltungsliteratur stand, gab es Gourmetkaffee und Gebäck. Meine Aufgabe bestand darin, auf einem Hocker an der Kasse zu sitzen und die wenigen Käufe einzutippen. Da sich die Kundschaft fast ausschließlich aus Obdachlosen und Doktoranden rekrutierte, die sich das kostenlose Nachschenksystem zunutze machten und Kaffee süffelten, bis sie zitterten wie

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