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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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der leitende Dekan in sein Büro. Der Fall John Joseph Moehringer Jr. sei ihm von meinen Professoren zugetragen worden, von denen sich viele, sagte er ironisch, »vernachlässigt« fühlten. Der Dekan war »entsetzt« über meine seltene Anwesenheit und »bekümmert« wegen meiner schlechter werdenden Noten. Er schwenkte die Hand über seinen Schreibtisch, auf dem meine Studienunterlagen ausgebreitet lagen. Wenn sich die »Angelegenheit« nicht bessere, sagte er, sehe er nur eine Möglichkeit, nämlich meine »Eltern« anzurufen und meinen Schulabgang in Erwägung zu ziehen.
    »John«, sagte er und warf einen Blick auf den Namen oben auf meiner Akte, »stimmt etwas nicht? Ist da etwas, worüber du mit mir reden möchtest?«
    Ich hatte ihm gern alles erzählt, jede Einzelheit, von Professor Luzifer bis zu Sidney. Der Dekan sah so freundlich aus mit seiner runden randlosen Brille, den vornehmen Krähenfüßen und graumelierten Schläfen. Er erinnerte mich an Franklin Delano Roosevelt, und ich sehnte mich nach einem Mann, der mir sagte, ich hätte nichts zu fürchten außer der Furcht selbst. Im Gegensatz zu Roosevelt steckte dem Dekan jedoch keine Zigarettenspitze zwischen den Zähnen, sondern eine schwarze Pfeife, aus der ein köstliches Aroma strömte – Brandy, Kaffee, Vanille, Holzasche – die destillierte Essenz väterlicher Fürsorge. Die blaue Rauchsäule aus seiner Pfeife ließ mich einen Augenblick dem Irrglauben erliegen, Franklin Dekan Roosevelt und ich plauderten gemütlich am Kamin. Dann fiel mir ein, dass wir nicht Vater und Sohn waren, sondern Dekan und Student, dass wir nicht ganz offen miteinander redeten, sondern Knie an Knie in seinem überfüllten Büro über der Schule saßen, die kurz davor stand, mich an die Luft zu setzen. »Die Sache ist kompliziert«, murmelte ich.
    Mit einem so anständigen Mann konnte ich unmöglich über Wahnsinn und Lust reden. Ich konnte Franklin Dekan Roosevelt nicht gestehen, dass mich Bilder von Sidney mit anderen Männern verfolgten. Die Sache ist die, Dekan, ich kann mich nicht auf Kant konzentrieren, weil ich ständig einen gewissen Doktoranden vor mir sehe, der meine Ex-Freundin liebkost, während sie rittlings auf ihm sitzt und ihr blondes Haar über seinen … Nein. Für diesen Dekan war Kant der ultimative Knüller. Kant war sein Penthouse. Ich betrachtete seine vom Fußboden bis zur Decke reichenden Bücherregale und wusste, er würde nie verstehen, warum ich meine Befriedigung nicht nur aus Büchern ziehen konnte. Ich verstand es ja selbst nicht. Vermutlich würde er das bisschen Sympathie, das er für mich empfand, auch noch verlieren, und wenn ich seine Achtung nicht haben konnte, dann zumindest sein Mitleid. Ich saß da und ließ die Sekunden auf einer Kaminuhr irgendwo hinter mir explodieren, genoss seinen Pfeifenrauch und sah überallhin, nur nicht in seine Augen. Ich wollte ihn das Schweigen brechen lassen.
    Doch er hatte nichts zu sagen. Was gab es in meinem Fall auch zu sagen? Er paffte an seiner Pfeife und musterte mich wie ein interessantes, wenn auch phlegmatisches Geschöpf im Zoo.
    »Tja«, sagte ich und beugte mich vor, als wollte ich gehen. »Vielleicht ein Tutor?«, schlug er vor.
    Natürlich hätte ein Tutor geholfen, doch hatte ich kaum Geld für Bücher, und was übrig blieb, brauchte ich für den Zug ins Publicans, den mein Zimmergenosse Desorient Express nannte. Ich versprach Franklin Dekan Roosevelt, über einen Tutor nachzudenken und mich mehr zu bemühen, aber beim Verlassen seines Büros dachte ich, das Beste wäre, in mein Zimmer zurückzugehen und meine Sachen zu packen. Ich war sicher, in spätestens einem Monat wäre meine Zeit in Yale abgelaufen.
    Stattdessen und erstaunlicherweise ging es weiter. Kurz nach meiner Sitzung bei dem Dekan fuhr ich nicht mehr jedes Wochenende ins Publicans. Mit Hängen und Würgen arbeitete ich mich durch das Semester, bestand mit einer Ausnahme alle Prüfungen, eine Kehrtwendung, die zwei ermutigende Stimmen ermöglichten, die ich immer im Ohr hatte. Eine gehörte meiner Mutter, die mir wundervolle Briefe schrieb, in denen sie mir versicherte, es gebe andere Sidneys, aber nur ein Yale. Wenn ich an die Liebe glaubte, schrieb sie, und davon ginge sie aus, dann sollte ich meine erste Liebe, Yale, nicht aufgeben, um meine zweite Liebe, Sidney, zu betrauern. Später würde ich auf diese Zeit zurückblicken, schrieb meine Mutter, und mich an erstaunlich wenig von alldem erinnern, außer wie sehr ich mich

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