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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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der Bibel steht auch einiges über Kneipiers, obwohl das Wort zu Zeiten Jesu eine andere Bedeutung hatte. ›Zöllner und Sünder‹, hieß es damals, glaube ich.«
    »Ich wurde praktisch von Barmännern erzogen. Mein Onkel und die Männer in der Bar hatten ein Auge auf mich, wenn meine Mutter nicht da war.«
    »Und dein Vater?«
    Ich ließ die Seiten meines Notizbuchs flattern und gab keine Antwort. »Tja«, sagte der Priester. »Du hattest Glück, dass so viele Männer eingesprungen sind.«
    »Ja, Pater. Das stimmt.«
    »Die Leute begreifen einfach nicht, wie viele Männer gebraucht werden, um jemanden zu einem guten Mann zu erziehen. Wenn du nächstes Mal in Manhattan bist und siehst, wie einer dieser mächtigen Wolkenkratzer hochgezogen wird, dann achte mal darauf, wie viele Männer an dem Bau beteiligt sind. Genauso viele Männer werden gebraucht, mein Sohn, um jemanden zu einem guten Mann großzuziehen.«
     
     
     
25 | SINATRA
     
    Die Anregungen, die ich aus der Unterhaltung mit Pater Amtrak zog, verflogen ebenso schnell wie der Alkohol. In jenem Winter 1984 geriet ich gewaltig ins Trudeln. Ich lernte nicht mehr und besuchte nicht mehr die Vorlesungen. Das Gefährlichste aber war, mich interessierte es auch nicht mehr. Jeden Morgen machte ich mich auf der Fensterbank lang, las Romane, rauchte, dachte an Sidney, und sobald das Wochenende nahte, zog ich meinen Mantel an, fuhr mit dem Zug nach New York und weiter ins Publicans, wo ich zwei Tage ununterbrochen mit den Männern zusammenhing, bevor ich Sonntag spätabends nach New Haven zurückkehrte. Die Männer fragten mich selten, warum ich so oft nach Hause kam, warum mein Haupt- und Nebenstudium im Publicans stattfand. Wenn sie sich beiläufig nach dem Stand der Dinge erkundigten, nuschelte ich etwas von Sidney, ließ aber nichts davon verlauten, dass ich das Unglück herausforderte und meine Schulverweisung nicht nur denkbar, sondern gewiss war. Ich wusste nicht, wie sie reagieren würden und wollte es auch nicht wissen. Ich hatte Angst, sie könnten sich über mein Chaos freuen, und ich würde mich dann gezwungen sehen, meine Gefühle für sie und die Bar zu überdenken. Ich hatte außerdem Angst, ich könnte mich über mein Chaos freuen und voller Stolz beschreiben, was ich aus meinem Leben machte. Zum ersten Mal hegte ich den Verdacht, dass ein selbstzerstörerischer Zug in mir schlummern könnte, eine Ahnung, die sich verstärkte, als ich eine Biographie von F. Scott Fitzgerald las und gierig alle Stellen markierte, die seine Suspendierung und sein nicht abgeschlossenes Studium am Princeton College betrafen. Ich ertappte mich bei dem Gedanken, ein abgebrochenes Studium könnte vielleicht die Voraussetzung für eine Karriere als Schriftsteller sein.
    Am ersten warmen Maitag saß ich draußen auf dem Fenstersims meines Zimmers. Die Luft war mild, unten auf der Straße schlenderten die Studenten in Hemdsärmeln vorbei. Sie wirkten beherzt und gut gelaunt, waren unterwegs zu Seminaren und Praktika. Ich wäre gern bei ihnen gewesen, doch es ging nicht. Ich hatte mich schon zu tief eingegraben. Ich fragte mich, was passieren würde, wenn ich mich einfach nach unten fallen ließe. Würde ich sterben oder mir nur das Schlüsselbein brechen und eine Szene machen? Es war keine suizidale Ader, eher ein trostloser Tagtraum, aber ich erkannte darin einen neuen, alarmierenden Wandel in meinem Denken.
    Dann sah ich Sidney. Sie ging auf der Elm Street in meine Richtung, trug eine weiße Bluse und einen kurzen Wildlederrock, ihre Haare waren mit einer Spange nach hinten gezogen. Ein paar Studenten auf dem Gehweg unter mir sahen sie ebenfalls. Sie stießen sich mit den Ellbogen an und grinsten. »Sieh dir das an«, murmelte einer. »Verdammt«, sagte ein anderer. Einer polierte gerade einen Apfel an seinem Hemd. Als Sidney näher kam, hörte er mitten im Polieren auf. Seine Lippen formten ein kleines verdutztes O. Er reichte Sidney den Apfel, und sie streckte, ohne langsamer zu werden, die Hand aus und schnappte ihn sich. Sie erinnerte mich an die Männer aus der Bar, wenn sie in vollem Lauf ins Meer schritten. Sie biss in den Apfel und ging weiter, drehte sich nicht ein einziges Mal um, so als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, wenn Fremde ihr im Vorbeigehen Zeichen der Verehrung erwiesen. In Gedanken hörte ich Onkel Charlies Stimme an dem Abend, als er Sidney zum ersten Mal sah. Du steckst in der Scheiße, mein Freund.
    Ein paar Tage später rief mich

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