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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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Cracksüchtige, wurde wenig verkauft und mir blieb jede Menge Zeit zum Lesen und Mithören von Gesprächen über Kunst und Literatur. Es herrschte eine erfrischend und absurd intellektuelle Atmosphäre. Einmal kam es zu einem Faustkampf zwischen zwei Bedienungshilfen, weil beide den silbernen Pfeifenreiniger von Jacques Derrida behalten wollten, den der berühmte Literaturprofessor neben seinem Sandwichteller hatte liegen lassen.
    Außerdem war ich für die Musik im Buchladen verantwortlich, und das hieß Sinatra am laufenden Band. Manche Doktoranden hielten sich die Ohren zu und flehten mich an, etwas anderes zu spielen. Selbst die Obdachlosen beschwerten sich. »Mensch, Kleiner«, rief mir ein Obdachloser zu, »ein bisschen Crosby zur Abwechslung wäre wirklich nicht schlecht.« An einem kalten Wintertag gab ich schließlich nach und spielte Mozart. Buds Lieblingsmusik – das Es-Dur Quintett für Klavier und Bläser. Ich schlug meine Tschechow-Ausgabe auf und mein Blick fiel auf die Zeile: »Wir werden Frieden finden. Wir werden den Engeln lauschen und den Himmel sehen funkelnd von Diamanten.« Ich klappte das Buch zu und spürte, wie die Worte mir ins Blut schossen gleich einem Martini von Onkel Charlie. Ich hatte Frieden gefunden, ich hatte Engel gehört, und der Himmel war tatsächlich voller Diamanten – es schneite dicke fedrige Flocken, und in dem von Glaswänden umgebenen Laden kam ich mir vor wie in einer Schneekugel. Ich sah zu, wie der Schnee den Campus betupfte, trank einen Schluck Kaffee, hörte Mozart und sagte mir -warnte mich – das muss es sein. Glücklicher konnte ich nicht mehr werden. Ich stand kurz vor meinem Examen, ich bewarb mich an juristischen Fakultäten, war wieder mit der Liebe meines Lebens zusammen. Und sogar meiner Mutter ging es besser. Sie verkaufte mit einigem Erfolg Versicherungen und ging wieder aus.
    Ein Kunde trat an den Ladentisch. Ich tippte sein Buch ein und als ich ihm sein Wechselgeld gab, knallte etwas gegen die Frontscheibe. Ich drehte mich um, der Kunde drehte sich um, alle drehten sich um. Ein riesiger Schneeball klebte platt am Glas. Und draußen, mitten auf der Straße, stand Sidney, eine Hand in die Hüfte gestemmt, sie strahlte. Ich rannte hinaus, hob sie hoch und wirbelte sie im Kreis herum. Dann sagte ich ihr, dass ich noch eine Minute zuvor geglaubt hatte, nie glücklicher gewesen zu sein, und jetzt war ich doppelt so glücklich, und das lag nur an ihr. »Ich liebe dich«, sagte sie, wiederholte es immer wieder.
    In meiner Erinnerung kommt es mir vor, als hätte ich nur fünf Minuten später die Sterling Library verlassen, einen groben Entwurf meiner Abschlussarbeit im Rucksack, und es war wieder Frühling. Franklin Dekan Roosevelt lief mir über den Weg. Er gratulierte mir zu meinem guten Aussehen und fügte unverblümt – und sichtlich bewegt – hinzu, er freue sich ganz besonders, mich in Doktorhut und Talar bei der Abschlussfeier zu sehen.
    Sidney und ich gingen in einer ihr bekannten, abgelegenen Bucht am Long Island Sound nackt baden. Wir schwammen zu einer weit vom Ufer entfernten Plattform und legten uns auf dem Rücken in die Sonne, hielten Händchen und redeten aus irgendeinem Grund leise, obwohl niemand in der Nähe war. Im Gegenteil, die Welt schien von einer zweiten großen Sintflut erfasst worden zu sein, die nur wir beide überlebt hatten.
    »Sei ganz ehrlich«, sagte ich.
    »Immer«, erwiderte sie.
    »Warst du schon jemals so glücklich?«
    »Noch nie«, sagte sie. »Ich hätte nie zu hoffen gewagt, so glücklich zu sein.«
    Meine Mutter schrieb mir, sie hätte sich ein Flugticket und ein neues blaues Kostüm für meine Abschlussfeier gekauft. Ich las ihren Brief unter meiner ausladenden Ulme, blickte dann zu den hohen Ästen hinauf, an denen frische grüne Knospen barsten, und schlief friedlich ein. Als ich aufwachte, dämmerte es bereits. Auf dem Rückweg zu meinem Zimmer entdeckte ich einen Handzettel mit einer Liste von Gastdozenten, die über verschiedene Themen sprechen sollten. Wer hat schon Zeit, in einem stickigen Hörsaal zu sitzen und sich die langweiligen Redner anzuhören, vor allem jetzt, bei Frühlingsbeginn? Der Name eines langweiligen Redners stach mir ins Auge. Frank Sinatra. Armer Kerl. Bestimmt irgendein dämlicher VWL-Gnom vom MIT, der nach dem coolsten Mann auf dem Planeten benannt war.
    Ich las die Ankündigung gründlicher durch. Irgendwie ließ der Handzettel durchblicken, dass dieser Frank Sinatra, der nach Yale

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