Tender Bar
kam, der Sänger Frank Sinatra war. Man hatte ihn eingeladen, über seine »Kunst« zu sprechen. Ich las die Ankündigung immer wieder. Ein Scherz, was sonst. Dann sah ich das Datum. 1. April. Sehr witzig.
Meine Studienkollegen schworen jedoch, es sei kein Scherz. Sinatra komme tatsächlich, sagten sie, auch wenn es sie nicht interessierte. An besagtem Tag schaute ich bei dem Hörsaal vorbei. Keine Menge, kein Aufruhr. Ich setzte mich auf die Treppe und sah den vorbeifahrenden Autos zu. Guter Witz. Ich wollte gerade gehen, als ein Student mit einem riesigen Schlüsselbund die Treppe heraufeilte. »Wegen Sinatra hier?«, fragte er.
»Kommt er wirklich?«
»Um vier.«
»Wo sind denn alle?«
»Ist doch erst zwei.«
»Ich dachte, die Leute würden Schlange stehen, um einen guten Platz zu kriegen.«
»Ist ja nicht George Michael, der kommt.«
Er ließ mich hinein. Ich suchte mir einen guten Platz und wartete, während sich der Saal um mich füllte. Einige Plätze waren noch frei, als Sinatra unauffällig durch einen Seiteneingang trat, ohne Gefolge, ohne Bodyguards, flankiert nur von seiner Frau und einem schludrigen Dekan. Er setzte sich gelassen neben das Rednerpult, überkreuzte die Beine und wartete.
Ich hatte ihn mir anders vorgestellt. Er war dicker und onkelhafter als ich erwartet hatte. Er wirkte nicht ungewöhnlicher als der Dekan, der am Podium herumfummelte und das Mikrofon einstellte, vielleicht weil Sinatra genauso gekleidet war wie der Dekan. Auf allen Fotos, die ich kannte, trug Sinatra einen Smoking oder einen Kammgarnanzug mit einer dünnen Krawatte. An jenem Tag trug er einen Tweedblazer, anthrazitfarbene Hosen, einen goldgelben Schlips und glänzende Slipper aus Pferdeleder. Sinatra wollte wie einer vom College aussehen, um nicht herauszustechen. Ich konnte es ihm nachfühlen.
Ich musterte seine Augen. Ich hatte diese blauen Augen so oft gesehen, auf Plattencover und in Filmen, aber keine Kamera konnte das tiefe Blau wiedergeben, das ich aus wenigen Metern Entfernung sah. Sie schossen nach rechts und links, schweiften durch den Raum wie blaue Suchscheinwerfer, und mir fiel auf, dass sie in Bewegung verschiedene Blautöne annahmen – indigo-, königs-, marineblau. Aber hinter dem Blau fiel mir noch etwas Verblüffenderes auf. Angst. Frank Sinatra hatte Angst. Einen Teller Spaghetti mit einem Killer zu essen, flößte ihm keine Angst ein, aber vor einem Raum voller Schwachköpfe zu reden, brachte ihn ins Schwitzen. Seine Hände zitterten, als er mit Karteikarten herumfummelte und sie in seine Brusttasche steckte. Er sah kurz seine Frau an, die vorne saß und ihm einen ermutigenden Blick zuwarf. Als ich sah, wie er sich krümmte und wand, wie er litt und den Wunsch hegte, gemocht zu werden, genau wie ich vier Jahre lang in Yale, hätte ich am liebsten gerufen: Ganz ruhig, Frank! Du bist mehr wert als der ganze verdammte Haufen zusammen genommen!
Der Dekan sprach ein paar einleitende Worte, dann stand Sinatra auf und trat ans Pult. Er hustete mehrmals in seine Faust, um sich zu räuspern, und begann. Seine Stimme war kratzig. Sie klang wie meine ältesten Platten. Er bedankte sich bei uns für die Einladung, über seine »Kunst« zu sprechen, und obwohl er ein Künstler sei, sagte er, sollten wir wissen, dass er in erster Linie ein Bar-Sänger war. Er liebte Bars, und besonders das Wort. Immer wenn er es sagte, wurden seine Stimmbänder locker, und sein smarter Hoboken-Akzent kam wieder durch und machte seinen tapferen Versuch, sich im Sprachstil einer Edeluni zu üben, zunichte. Eine Bar war der Geburtsort seiner Stimme, sagte er. Eine Bar war die Startrampe seiner Identität. Es war eine Bar, in die seine Mutter ihn als Jungen mitgenommen, auf die Theke gesetzt und ihm gesagt hatte, er solle für die Männer singen. Ich sah mich um. Hatten das alle mitgekriegt? Frank Sinatra war in einer Bar aufgewachsen! Niemand wirkte sonderlich überrascht, nur ich schlug mir mit der Faust auf den Oberschenkel.
Ich hätte nicht für möglich gehalten, dass ich Sinatra noch dankbarer sein könnte. Ihm schrieb ich es schon halbwegs zu, dass ich über Sidney hinweggekommen und wieder mit ihr zusammen war, er hatte mir beim Examen geholfen. Als er mir jetzt noch das Gefühl gab, es sei nicht verwerflich, Bars zu lieben, und in einer Bar aufzuwachsen hindere einen jungen Mann nicht daran, Erfolg und Glück zu haben oder jemanden wie Sidney zu lieben, wäre ich am liebsten zum Podium gerannt und hätte ihn
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