Tender Bar
zum ersten Mal gehört hatte. Mir fiel ein, wie sie mich gequält hatten, doch als ich mich jetzt zu meinen Mitabsolventen setzte, fielen alle Qualen von mir ab und statt ihrer empfand ich eine glühende Dankbarkeit, die für mich den eigentlichen Höhepunkt des Tages bildete und mir mehr bedeutete als das Diplom, das ich gleich erhalten sollte.
Nur ein trauriger Moment trübte den herrlichen Nachmittag. Es ging alles so schnell, dass ich mich hinterher fragte, ob ich ihn mir vielleicht nur eingebildet hatte. Gleich nach der Feier trat Sidney mit einem großen Lilienstrauß aus der Menge. Sie gab ihn mir und küsste mich auf die Wange. Sie flüsterte mir zu, dass es ihr leid tat und sie mich immer lieben würde, dann drehte sie sich um – kurzer Rock, braune Beine, hochhackige Schuhe – und lief quer über den Rasen davon. Ich sah zu, wie sie im Schatten meiner ausladenden Ulme verschwand und ein Zufluchtsort sich im anderen auflöste.
Ich empfand keine Wut. Stattdessen wurde mir schlagartig und überdeutlich bewusst, wie jung wir waren, Sidney ebenso wie ich. Vielleicht lag es an der Quaste, die mir vor den Augen hing und mich mit reifem Selbstbewusstsein denken ließ, jedenfalls sah ich einen kurzen Augenblick ein, dass Sidney trotz all ihrer Erfahrung noch immer ein Mädchen war. Wir hatten beide so getan, als wären wir erwachsen, aber mehr auch nicht. Wir wünschten uns die gleichen Dinge – Schutz, Geborgenheit, finanzielle Sicherheit – und vielleicht brauchte Sidney sie dringender als ich, denn sie war damit aufgewachsen und wusste, wie wichtig sie waren. In dem verzweifelten Bemühen, all diese Dinge zu bekommen, hatte sie aus Panik gehandelt, nicht aus Bosheit.
Auf der Fahrt mit meiner Mutter nach Manhasset weigerte ich mich, an Sidney zu denken. Ich konzentrierte mich auf die guten Dinge an diesem Tag, während meine Mutter mein Diplom las. »Ist alles auf Lateinisch«, sagte sie.
»Bis auf meinen Namen – eine Mischung aus Deutsch und Kauderwelsch.«
»Primi Honoris Academici? Was bedeutet das?«
Ich schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung.«
Ein Diplom, das ich nicht lesen, ein Name, den ich nicht ausstehen konnte. Egal. Ich liebte mein Diplom und sah es fast wie eine zweite Geburtsurkunde. Meine Mutter fuhr mit dem Finger über den Namen. »JR Moehringer«, sagte sie. »Du hast Yale dazu gebracht, JR zu drucken? Und das ohne Punkte?«
»In letzter Minute ausgehandelt.«
»Was ist mit JR Maguire?«
»Ich … hab’s mir anders überlegt.«
Sie warf einen Blick auf meine Hand am Steuer. »Und der Yale-Ring?«, fragte sie.
»Darüber reden wir beim Essen.«
Vor einiger Zeit hatte Yale meiner Mutter einen Katalog mit Ringen zugeschickt, der ihr nicht mehr aus dem Kopf ging. Irgendwie war es ihr zur fixen Idee geworden, mir zum Examen einen Ring zu schenken. Sie sagte, ich müsse einen Ring haben. Ein Ring, sagte sie, sei eng mit der Zeit in Yale verknüpft. Genau wie das Diplom war der Ring in ihren Augen ein Beweis, dass ich in Yale studiert hatte. »Ein glänzender Beweis«, sagte sie.
Eigentlich wollte ich keinen Ring. Ich erzählte ihr von meiner Aversion gegen Männerschmuck und wies sie darauf hin, dass Yale-Ringe teuer waren. Sie wollte nicht hören. Du musst einen Ring haben, beharrte sie. Gut, sagte ich, schick mir den Katalog, dann bestelle ich einen Ring. Aber ich wollte ihn selbst bezahlen und im Buchladencafe ein paar Stunden zusätzlich einlegen.
Beim Essen im Publicans ahnte meine Mutter, dass ich mein Wort nicht gehalten hatte und das Geld für den Ring den gleichen Weg gegangen war wie das Geld für die Namensänderung. »Du hast versprochen, einen Ring zu bestellen«, sagte sie enttäuscht.
»Und ich habe Wort gehalten.«
Aus der Brusttasche meines Blazers holte ich ein Samtkästchen hervor und schob es über den Tisch. Sie öffnete es. Innen war ein Yale-Ring. Ein Frauenring. Ich erklärte ihr, dass Yale unser Traum, unsere Leistung gewesen sei. Ich sagte meiner Mutter, dass ich ohne sie nie in Yale gelandet wäre und ohne sie niemals durchgehalten hätte. »Für mich«, sagte ich, »hast du heute auch deinen Abschluss in Yale gemacht. Und dafür brauchst du einen Beweis. Einen glänzenden Beweis.«
Tränen traten ihr in die Augen, und sie wollte etwas sagen, doch sie brachte keinen Ton heraus.
Nach dem Essen zogen wir in die Bar um. Onkel Charlie stand am Zapfhahn und spielte mir zu Ehren den ganzen Abend Sinatra. »Das ist ›dein Pomp and Circumstance‹«, sagte
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